Agile war einmal das Zauberwort der IT-Branche. Es war so sehr Zauberwort, dass es auch in ganz anderen Kontexten außerhalb der IT Einzug gefunden hat. Wer etwas auf sich hielt, führte “Agile” ein. Scrum Master wurden installiert und hängten Post-its an die Wand. Doch nach zwei Jahrzehnten des Hypes scheint die Luft raus zu sein. Zertifikate stapeln sich, Meetings ersticken in Formalien, das Adjektiv “agile” wird beliebig vor alles Mögliche geschrieben und der berüchtigte “agile Overkill” sorgt für frustrierte Teams statt für innovative Produkte. Selbst die Beiträge, die Agilität für tot erklären, häufen und wiederholen sich bereits.
Agile ist tot – Lang lebe Agilität
Agile ruft längst keinen Zauber mehr hervor und Unternehmen, die den Begriff Agile in ihrem Unternehmensnamen haben, sollten sich über kurz oder lang (vermutlich eher früher als später) neu orientieren und dann auch umbenennen. Mein persönlicher Eindruck und was ich immer mehr höre: Aufträge in Sachen Agile Beratung und in der Vermittlung agiler Rollen wie Agile Coaches oder Scrum Master brechen ein. Freelancer in diesem Bereich ringen um Jobs. Unternehmen stecken in der Krise und sehen den Mehrwert nicht mehr. Und wenn sie den Mehrwert von Agilität sehen, dann bauen sie diese Kompetenzen intern auf – entweder in den genannten Rollen oder als Wissen und Können in ganz anderen Rollen. Mehr und mehr freiberufliche Agile Coaches sitzen auf der Bank oder orientieren sich um. Während in der Corona-Zeit viele freiberufliche Scrum Master zu Agile Coaches wurden, werden nun viele freiberufliche Agile Coaches zu Organisationsentwicklern oder lassen sich (in diesen oder anderen Rollen) fest anstellen. Hype-Themen verschieben sich von “Agile Beratung” hin zu “Nachhaltigkeit”, “KI” und anderen aktuellen Feldern, von denen Entscheiderinnen in Unternehmen sich jetzt einen Mehrwert versprechen.
Agile ist angetreten, um durch eine gesteigerte Effektivität die richtigen Produkte zur Lösung der Probleme ihrer Kunden schnell zur Verfügung zu stellen. Wäre das nachhaltig und genau so flächendeckend geglückt, wie Agile in Unternehmen zu finden ist, müsste die Wirtschaftskrise für genau diese Unternehmen leichter zu meistern sein als es den Eindruck macht. Kaum jemand würde den Nutzen von Agile in Frage stellen. Die immerwährende Argumentation, dass Unternehmen Agile halt nur immer noch nicht richtig machen würden und alte Muster und alte Führungskräfte mit veralteten Ideen zu stark seien, kann ich nach mehr als 20 Jahren Berufserfahrung – davon 17 im agilen Kontext in unterschiedlichen Unternehmen und Rollen – so nicht mehr unterschreiben. Agile als Hype ist zu einer Ideologie mutiert und der Hype ist vorbei.
Doch ist damit Agilität tot? Ganz im Gegenteil. Nur erfordert die evolutionäre Transformation zu echter (oder unternehmensweiter) Agilität mehr als nur die Einführung von Tools und auch mehr als nur eine veränderte Haltung ist. Sie hängt ebenso stark von tiefem Problemverständnis und gezielten organisatorischen Anpassungen ab, die sich – das ist ebenso wichtig wie oft übersehen – an den spezifischen Herausforderungen eines Unternehmens und ihrer Kunden orientieren. Agilität lässt sich nicht in einzelne Rollen und Stabsstellen auslagern oder über einzelne Trainings und Frameworks ausrollen und sicherstellen. Auch geplante agile Transformationen bringen keinen Erfolg. Nur durch die Kombination aus Strukturänderungen sowie Haltung und Verhalten auf Basis verstandener Probleme können Unternehmen die Grundprinzipien von Agilität nachhaltig in ihre Unternehmen integrieren.
Während der Begriff “Agile” zunehmend als heiße Luft wahrgenommen wird und sich nicht selten auch als solche entpuppt, wird (echte) Agilität zur unverzichtbaren Grundlage für Unternehmen, die in einer komplexen und sich rasant verändernden Welt Wert schaffen. Es ist also an der Zeit, den Ballast des Hypes abzuwerfen und zur Essenz zurückzukehren. Agilität kann in Organisationen entstehen, wenn “Agile” nicht mehr zum Ziel, wenn also nicht mehr Mittel zum Zweck gemacht wird. Agilität als gelebte Anpassungsfähigkeit und kollaborative Zusammenarbeit. Und wenn man gelöst von simplifizierenden Frameworks genauer hinsieht, entdeckt man vielleicht bereits viel mehr davon in den Unternehmen, als man für möglich gehalten hätte – dann ist es statt Scrum vielleicht wirklich Agilität.
Vom Heilsbringer zur Belastung
Vom Manifest zum Massengeschäft
Alles begann im Jahr 2001, als 17 Entwickler das Agile Manifest verfassten. Ihre Prinzipien waren vor bald 25 Jahren revolutionär: Zusammenarbeit über Prozesse, Software über Dokumentation, Reaktion auf Veränderung über starrem Plan. Doch während diese Ideen für frischen Wind sorgten, dauerte es nicht lange, bis “Agile” kommerzialisiert wurde – mit dabei und allen voran die Gründungsväter wichtiger agiler Frameworks. Wer will es ihnen verdenken.
Zertifizierungen schossen wie Pilze aus dem Boden. Plötzlich war jeder ein Certified Scrum Master oder Professional Product Owner. Streitigkeiten zwischen der Scrum Alliance und Scrum.org sorgten für Verwirrung. Tools wie Jira und Trello wurden zu den Must-Have-Werkzeugen, und Firmen versprachen sich selbst und anderen Wunder, wenn sie nur agile würden. Die Nutzung dieser Tools machen Unternehmen wie Atlassian oder die Scrum Alliance reich. Konzerne geben teilweise jährlich hunderttausende Euro für Rezertifizierungen aus, die ihnen inhaltlich keinen Mehrwert bringen. Lizenzkosten für Quasi-Standard-Tools in dem Kontext schießen in die Höhe. Ein Skalierungsframework verspricht vor allem Konzernen eine sichere agile Umgebung und entwickelt sich hier zu einem pseudoagilen Standard, der möglicherweise hier und da einen Nutzen bringt, aber mit Agilität wenig zu tun hat. Dabei klaut man sich alle Ideen aus dem agilen Umfeld zusammen, die bei drei nicht auf den Bäumen sind und mahnt ab, wenn unerlaubt eigenes Material verwendet oder verteilt wird.
Die Kuh wird gemolken, so lange es geht. Und wie so oft frisst der Erfolg die Essenz jetzt auf. Agile wurde vom flexiblen Denkansatz zu starren Methoden, mit denen sehr viele über viele Jahre sehr viel Geld verdienten und noch verdienen. Es ist ein eigenes Geschäftsfeld für viele Unternehmen – manche skrupelloser als andere, manche erfolgreicher als andere. Und wenn teure Ausbildungen, Methoden und Frameworks nicht den versprochenen Effekt haben, ist das einfache Argument, dass der Rahmen nicht passt, dass Unternehmen wieder zurück gehen zu alten Mustern, dass die bestehende Kultur zu stark ist oder es die Menschen nicht richtig machen. Und das, obwohl bei genauerer Betrachtung viele Grundlagen, die heute mit dem Hype-Begriff Agile verkauft werden, bereits seit 1000 Jahren ihre Anhänger finden.
Agile als Glaubensfrage
In vielen Unternehmen mutierte Agile zur neuen Religion mit vielen Anhängern. Ich weiß wovon ich spreche, ich war auch ein paar Jahre ein “Gläubiger”. Die Folge: Rituale wie Daily Stand-ups oder Retrospektiven wurden blind übernommen, unabhängig davon, ob sie wirklich Mehrwert brachten. Alles musste Agile werden, nur dann lande man im gelobten Land zufriedener Kunden und Mitarbeitenden. Man bemühte sich mehr um die Einhaltung der Methode, als um die eigentlichen Ziele. Plötzlich gehörte Lean ebenso zu Agile wie “New Work”, “Achtsamkeit”, “positive Psychologie” oder “Selbstorganisation”. Alles, was bei drei nicht auf dem Baum war, wurde von Agile vereinnahmt. Von agiler Softwareentwicklung kommend, sind wir jetzt bei agilen Unternehmen, agilem Portfoliomanagement, agile Leadership, agiler Transformation, agile HR, agiler Organisationsentwicklung, agilem Controlling, agilem Product Management, agilem Projektmanagement und was sonst noch alles.
In dem Zuge wurden Agile Coaches zu Predigern, die in aufwändigen Workshops den Teams “echtes Agile” nahebrachten – während die leidtragenden Mitarbeitenden heimlich nur noch mit den Augen rollen konnten. Der Hype begann, sich selbst ad absurdum zu führen. Denn gleichzeitig waren und sind Agile Coaches in der Regel zahnlose Tiger. Sie werden in Organisationen installiert, damit das Unternehmen agile ist und das bedeutet in der Regel, dass vor allem “die anderen” agile machen. Die Scrum Master in ihren Scrum Teams waren und sind häufig nicht viel mehr, als teuer bezahlte Moderatoren, Happyness-Minister und Bewacher von Frameworks. Agile Coaches haben in den seltensten Fällen das Mandat, echte und notwendige Veränderung tatsächlich umzusetzen – denn das war, ist und bleibt Kernaufgabe von Menschen in Führungsrollen und Agile Coaches werden als solche selten verstanden.
Vom Gipfel der Erwartungen ins Tal der Ernüchterung
Wie jede vielversprechende Innovation unterliegt auch “Agile” dem Hype Cycle – den ich gerne in diesem Artikel heranziehe, auch wenn er nicht wissenschaftlich fundiert ist. Der Hype-Cycle als Modell zeigt, wie Innovationen in der öffentlichen Wahrnehmung typischerweise verlaufen. Es beginnt mit einem „Gipfel der überzogenen Erwartungen“, bei dem eine neue Idee als Allheilmittel gefeiert wird. Es folgt das „Tal der Enttäuschungen“, in dem die Realität mit Ernüchterung einsetzt, bevor schließlich der „Pfad der Erleuchtung“ und das „Plateau der Produktivität“ erreicht werden.
Auch Agile lässt sich in diesem Zyklus darstellen. Nach einem rasanten Aufstieg in die “Gipfel der überzogenen Erwartungen” (sei agile und alle Probleme lösen sich schnell auf) ist Agile längst im “Tal der Enttäuschungen” (agile ist tot, weil nichts wirklich besser wurde) angekommen. Zertifizierungswahn, überbordende Frameworks und mangelnder Kontextbezug haben viele Unternehmen, Entscheiderinnen und Mitarbeitende ernüchtert.
Doch genau an diesem Punkt beginnt der entscheidende Wandel. Der Weg auf den “Pfad der Erleuchtung”. Es war für mich eine spannende Erfahrung im Kontakt mit StartUps zu sein, die sich überhaupt nicht um “Agile” gekümmert hatten, und gleichzeitig viel agiler arbeiteten, als Unternehmen, die sich vollständig Scrum verschrieben hatten. Unternehmen erkennen mehr und mehr, dass es nicht um die blinde Anwendung von Methoden geht, sondern um die pragmatische Anpassung an ihre spezifischen Herausforderungen. Agile als Buzzword hat seinen Glanz verloren. Agilität als Prinzip bietet die Chance, nachhaltige und kontinuierliche Veränderung und Wertschöpfung zu schaffen.
Agil versus Agilität – der Unterschied
“Agile” – Ein Begriff am Abgrund
Der Begriff Agile ist heute so abgegriffen, dass er meist nur noch leere Versprechen repräsentiert. Ich erinnere mich noch: Mein erster Tag in einem Unternehmen als Agile Transition Manager und mir wurde empfohlen, alles was ich mache eher Lean als Agile zu nennen, weil Agile verbrannt sei.
Was also ist mit Agile wirklich besser geworden? Projekte bleiben verzögert, Meetings nehmen zu und ziehen sich endlos ohne Ergebnisse? Meistens ist all das nur sehr teure Kosmetik. Unternehmen haben sich hinter Frameworks wie Scrum oder SAFe verschanzt und behaupten oder glauben sogar, damit seien sie agil. Doch sie sind es nicht.
Einen frischen Gegenentwurf für Teams gibt es seit Ende 2015 von Joshua Kerievsky mit seiner Modern Agile Community, die ohne Zertifizierungen und Berater auskommt und vier Prinzipien agiler Arbeitsweisen formuliert: “Make People Awesome”, “Deliver Value Continuosly”, “Make Safety A Prerequisite”, “Experiment And Learn Rapidly”. Besonders aktiv erscheint mir die Community mit rund 3.000 Slack-Usern und knapp 2.500 X-Usern allerdings nicht und Agilität in Unternehmen braucht einen anderen und breiteren Blickwinkel, als nur agile Prinzipien.
Agilität – Die Überlebensfähigkeit in einer komplexen Welt
Während Agile zur Hülse verkommen ist, bleibt Agilität das, worum es wirklich geht: die Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren, sich anzupassen, Chancen zu erkennen und proaktiv zu nutzen. Agilität ist weder ein Framework, noch ein Mindset. Beides ist gut aber reicht nicht aus. Eine agile Denkweise ist essenziell, doch ohne konkrete organisatorische und strukturelle Anpassungen bleibt sie hinter den hilfreichen Möglichkeiten zurück. Es braucht flexible Strukturen, klare Verantwortlichkeiten, ein modernes Führungsverständnis und ein bewusstes Management der Nahtstellen zwischen Teams, um die Prinzipien der Agilität in der Praxis zu verankern. Sie erfordert flexible Strukturen, experimentelles Arbeiten und den Mut, Dinge infrage zu stellen – auch und gerade die oft lieb gewonnen und routinierten eigenen (agilen) Methoden.
Eine wichtige Erkenntnis hierbei: Organisationen sind evolutionäre (selbstorganisierte) Systeme. Sie erhalten sich selbst. Die häufig formulierte Warnung, dass Unternehmen ohne Agile dem Untergang geweiht seien, erweist sich in der Praxis als übertrieben und falsch. Viele Organisationen haben über Jahrzehnte überlebt, auch ohne auf den Agile-Hype aufzuspringen – weil sie andere Stärken besaßen oder einfach das Glück hatten, in stabilen Märkten zu agieren und manchmal auch, weil sie ganz ohne den Agile-Hype in einem hohen Maße agil waren, ohne es zu wissen oder so zu nennen. Das zeigt, dass es weniger um die blinde Umsetzung eines Trends, als um die passgenaue Problemlösung für die jeweiligen Herausforderungen geht.
Systemtheorie als Fundament echter Agilität
Warum wir die Systemtheorie brauchen
Echte Agilität lässt sich am besten durch die Brille der Systemtheorie verstehen. Organisationen sind komplexe, dynamische (soziale) Systeme. Alles ist miteinander verbunden und die Folgen aus Wechselwirkungen sind nicht verlässlich vorhersehbar. Doch was bedeutet das konkret? Vor allem: Wie lassen sich Nahtstellen so gestalten, dass sie nicht zu Schwachstellen werden?
Drei Prinzipien der Systemtheorie für Agilität
- Ganzheitliche Sicht: Probleme entstehen oft durch isoliertes Denken. Abteilungen und auch Teams, die nur ihre eigenen Ziele verfolgen, schaffen Silos. Diese Silos blockieren den Informationsfluss und führen zu Ineffizienzen an den Nahtstellen. Systemische Ansätze fördern funktionsübergreifende Zusammenarbeit und eine klare Orientierung an gemeinsamen Zielen und brechen so diese Isolation auf.
- Dynamische Anpassung: Systeme entwickeln sich über Zeit. Wer morgen Erfolg haben will, muss heute auf Veränderungen reagieren. Und das immer wieder. Nicht jede Anpassung führt dabei automatisch zu Verbesserungen. Passfähige Lösungen sind entscheidend. Sie berücksichtigen sowohl die individuellen Bedürfnisse einzelner Teams als auch die Gesamtstrategie des Unternehmens.
- Selbstorganisation: Agilität bedeutet nicht Chaos. Vielmehr geht es darum, Verantwortung auf Teams zu übertragen und ihnen die Werkzeuge zu geben, um selbst Entscheidungen zu treffen. Das klappt nur dann im Sinne der Organisation gut, wenn Nahtstellen klar definiert sind, die Teams wissen, wie ihre Arbeit das größere System beeinflusst und wenn eine hohe Verbindlichkeit und Verlässlichkeit gewährleistet sind.
Nahtstellen als Schüsselelement
Ein besonders kritischer Punkt in der systemischen Betrachtung sind die Nahtstellen zwischen Teams, Abteilungen oder Prozessen. Hier entstehen die meisten Reibungsverluste, sei es durch Missverständnisse, widersprüchliche Ziele oder ineffiziente Abstimmungen. Mit folgenden Fragen lassen sich diese Nahtstellen gezielt analysieren und optimieren:
- Prozessübergreifende Abstimmung: Wie können Teams sicherstellen, dass ihre Ergebnisse nahtlos in den Gesamtprozess passen?
- Kommunikationsstrukturen: Welche Wege, Arten und Inhalte der Information sind notwendig, um Missverständnisse zu vermeiden?
- Flexibilität und Stabilität: Wie kann eine Balance zwischen notwendiger Eigenverantwortung und übergeordneter Steuerung geschaffen werden?
Die Arbeit an diesen Nahtstellen ist nicht einfach und erfordert Geduld und Systematik. Sie ist dabei entscheidend, um nicht nur einzelne in sich agil arbeitende Teams zu haben, sondern Agilität als gesamtes Unternehmen zu leben. Denn ein einziges agiles Team erzeugt wenig Wert im Kontext ganzer Unternehmen.
Weniger Ritual, mehr Wirkung
Die Fehler des Agile-Hypes
Viele Unternehmen scheitern, weil sie Agilität mit der reinen Implementierung von Tools und Frameworks verwechseln. Jira allein macht nicht agil. Ebenso wenig hilft es, jeden Prozess in Epics und Stories zu zerlegen, wenn niemand hinterfragt, ob das überhaupt sinnvoll ist. Andere glauben, dass sie mit New Work Seminaren, Achtsamkeits-Trainings und Agile Mindset Schulungen weiter kommen und wieder andere versuchen sich in aufwändigen und teuren agilen Transformationen.
Was echte Agilität ausmacht
Echte Agilität im Unternehmen erfordert ein Verständnis des Geschäfts und des Kunden und dann einen zielgerichteten Pragmatismus. Es geht dabei nicht um “einfach mal machen“, sondern um ein tiefes Verständnis der zu lösenden Probleme und auf guten Theorien basierende Ideen, die pragmatisch umgesetzt und bei Bedarf schnell angepasst werden. Dabei darf die Bedeutung der Nahtstellen zwischen Teams, Abteilungen und Prozessen nicht unterschätzt werden. In einer komplexen Organisation entstehen die größten Reibungsverluste oft genau dort, wo unterschiedliche Arbeitsweisen, Interessen oder Verantwortungsbereiche aufeinandertreffen und nicht kooperativ oder kollaborativ bearbeitet werden. Nachhaltige Agilität gelingt nur, wenn diese Nahtstellen bewusst gestaltet und auf die spezifischen Herausforderungen abgestimmt werden. Passfähige Lösungen für organisatorische Probleme müssen flexibel entwickelt und kontinuierlich angepasst werden, ohne dabei die übergeordnete Ausrichtung auf den Geschäftszweck – also das Lösen der Kundenprobleme – aus den Augen zu verlieren.
- Kundenorientierung: Das Ziel ist nicht, Sprints erfolgreich abzuschließen, sondern Produkte zu entwickeln, die Kunden begeistern.
- Übergreifende Kooperation: Abgrenzung durch Nahtstellen interessieren Kunden nicht. Vielen Probleme heute kann nur kooperativ und kollaborativ begegnet werden. In dem Sinne müssen die Nahtstellen gestaltet werden.
- Pragmatische Lösungsorientierung: Passfähige Lösungen in Komplexität entstehen durch ein gutes Problemverständnis und eine pragmatische Herangehensweise mit einem kontinuierlichen Prozess des Überprüfens und Anpassens.
- Mehr Flexibilität: Nicht jedes Team braucht Scrum oder Kanban. Manchmal hat eine einfache To-Do-Liste mehr mit Agilität zu tun, als agile Frameworks und für manche Problemlösung hilft auch eine Roadmap und ein konkreter Plan.
Praxisbeispiel: Ein agiles Unternehmen neu gedacht
Stell dir ein Unternehmen vor, das keine festen Rollen wie Scrum Master oder Product Owner hat. Stattdessen rotieren Aufgaben und temporäre Teams entscheiden gemeinsam selbst, was zur Problemlösung als nächstes getan werden muss und wer und was dafür gebraucht wird. Kundenfeedback wird regelmäßig ausgewertet und direkt eingearbeitet. Lösungen werden in fluiden Teams mit den Menschen erarbeitet, die einen Beitrag leisten können und Teams stellen sich für die Problemlösung immer wieder neu auf. eine klare Entscheidungsstruktur stellt hohe Geschwindigkeit sicher und Meetings gibt es nur, wenn sie einen klaren Zweck haben. Klingt revolutionär? Ja. Und das ist nicht “Agile” mit Scrum oder SAFe. Das ist einfach eine adaptive Organisation, in der Agilität Teil der DNA ist.
Agilität – Mehr als nur Schnelligkeit
Der Agile-Hype hat in unserem Wirtschaftssystem, das auf ständig steigende Effizienz und Geschwindigkeit ausgerichtet ist versprochen, dass wir schneller mehr und besser zu Ergebnissen kommen. Das “schneller, höher, weiter” hat viele Unternehmen und ihre Teams und Menschen in die Erschöpfung getrieben, keine gute Grundlage um mit aufkommenden oder bereits existierenden Wirtschaftskrisen umzugehen. Die Herausforderung liegt jetzt darin, eine Balance zwischen notwendigen Strukturänderungen und gezielter Problemlösung zu finden.
Nachhaltige Agilität entsteht, wenn Unternehmen ihre spezifischen Herausforderungen verstehen und passgenaue, flexible Lösungen entwickeln, dabei den Markt antizipieren und erkennen, wann welche Veränderung notwendig wird. Echte Agilität stellt die Frage: Wie können wir langfristig wirksam, gleichzeitig nachhaltig arbeiten und durch schnelle passfähige Ergebnisse erfolgreich sein? Eine Antwort liegt in einer Balance aus Flexibilität und Stabilität. Unternehmen, die Agilität wirklich leben, warten nicht auf Veränderungen – sie gestalten sie aktiv mit. Sie erkennen Trends frühzeitig, treffen entsprechende Entscheidungen und das, bevor andere sie treffen.
Agilität als Grundvoraussetzung
Der Agile-Hype ist vorbei, und das ist gut so. Er ist aufgeblasen, teuer und bringt wenig Nutzen. Unternehmen brauchen nicht flächendeckend überall Scrum oder Kanban, Scrum Master oder Agile Coaches. Jetzt beginnt die Zeit für echte Agilität die Veränderung nicht fürchtet sondern willkommen heißt – auch die Veränderung weg von “Agile”. In diesen veränderten Unternehmen gibt es vielleicht auch Scrum Master oder Agile Coaches – zum Beispiel als Facilitator-Team, wenn sie einen Mehrwert im Sinne der Lösung von Kundenproblemen haben. Unternehmen, die sich von “agile” als Buzzwords lösen und die Prinzipien der Anpassungsfähigkeit und Selbstorganisation in den Rahmenbedingungen von Organisationen ernst nehmen, werden nicht nur überleben, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein.
Der Hype Cycle zeigt uns, dass jede Innovation Höhen und Tiefen durchläuft. Agile mag seinen Höhepunkt überschritten haben, aber das ist kein Verlust, es ist eine Chance. Jetzt beginnt die “Hype-Cycle-Phase der Erleuchtung”: Unternehmen können sich sowohl von der Illusion lösen, dass Frameworks allein die Antwort sind, als auch, dass “Agile” die Antwort auf alles ist. Sie können stattdessen echte Agilität als strategisches Prinzip in ihren Alltag integrieren. Der Hype wird vergehen. Die grundlegenden Prinzipien bleiben – als Fundament für nachhaltigen Erfolg in einer komplexen Welt.
Agilität bezeichnet die Fähigkeit von Organisationen, flexibel und schnell auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu reagieren, Chancen zu nutzen und sich kontinuierlich anzupassen. Sie basiert auf Prinzipien wie Selbstorganisation, Kundenorientierung und einer lernenden Haltung. Systemtheorie bietet dabei den theoretischen Rahmen, indem sie Organisationen als komplexe soziale Systeme betrachtet, in denen alles vernetzt ist. Innerhalb solcher Systeme spielen Nahtstellen – also die Schnittpunkte zwischen Teams, Abteilungen oder Prozessen – eine zentrale Rolle. Die Gestaltung dieser Stellen reduzieren Reibungsverluste, Missverständnisse und Ineffizienzen. Adaptive Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht nur reaktiv, sondern proaktiv auf Veränderungen einstellen, indem sie sowohl ihre Strukturen, als auch ihre Arbeitsweisen kontinuierlich hinterfragen und anpassen.
2025: Los geht’s
Es ist Zeit, die Post-its von der Wand zu reißen, sich von dem Agile-Hype zu lösen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Wie können wir echten Wert und Lösungen für die Probleme von Kunden schaffen? Agile ist ein aus der Mode geratener Hype, der seinen Zenith überschritten hat. An seine Stelle tritt Agilität als selbstverständliche Grundvoraussetzung in Organisationen in einer komplexen Arbeitswelt. Und sie ist hier, um zu bleiben.
Anstatt dem nächsten Framework oder der nächsten (Re-)Zertifizierung hinterher zu laufen frag dich in deinem Unternehmen lieber: Wo behindern starre Strukturen und Nahtstellen die Zusammenarbeit? Wo könnte mehr Selbstorganisation möglich sein, ohne den Fokus zu verlieren? An welcher Stelle ist iteratives und an welcher plangetriebenes Vorgehen zielführender? Welche Konflikte sind förderlich und welche destruktiv? Wie kann und sollte man Führung implizit geschehen lassen und explizit entscheiden, wo ist sie notwendig und wo nicht? Hör auf, nach Standardlösungen zu suchen – schau stattdessen genau hin, was dein Kunde, dein Unternehmen, deine Abteilung und dein Team wirklich brauchen. Fördere dabei eine Kultur, in der Experimentieren und Lernen selbstverständlich sind. Hole dir immer wieder Impulse von außen und sei mutig genug, Methoden oder Rituale infrage zu stellen, die keinen Mehrwert bringen – auch und gerade wenn sie Teil des Agile-Hypes sind.
Das Wichtigste ist: Leg los! Konzentriere dich darauf, echten Wert zu schaffen – für deine Kunden in deinem Unternehmen, mit anderen Unternehmen und in deinen Teams. Kleine, gezielte Veränderungen können Großes bewirken. Fang an, Rahmenbedingungen und Nahtstellen zu gestalten, Teams zu befähigen und Zusammenarbeit zu verbessern. Mach Agilität zu einer Haltung, die deine Organisation durchdringt, statt zu einem Buzzword, das schon jetzt kaum noch jemand ernst nimmt.
Die Zukunft gehört denen, die Wandel nicht nur (mit)machen weil es dazu gehört, sondern die Veränderung aktiv gestalten und als kontinuierliche (Führungs-)Aufgabe verstehen. Es ist an der Zeit, Agilität neu zu denken und zu leben. Verzichte auf “Agile” und mach den nächsten Schritt hin zu Agilität – deine Teams und dein Unternehmen werden es dir danken.
Nachtrag
Diesen Artikel habe ich bereits Ende 2024 formuliert und zur Veröffentlichung geplant. Interessant waren für mich dann Anfang 2025 zwei Hinweise bei LinkedIn. Zum einen der des erfahrenen Beraters und Experten Christian Müller, der die Frage anreißt, Warum das Interesse an Agilität mit dem Aufkommen von Künstlicher Intelligenz gesunken ist. Zum anderen der Hinweis von Björn Schotte, Geschäftsführer eines bereits von Beginn an agil arbeitenden Unternehmens, zu der neuesten Ankündigung der Agile Alliance, die mindestens einen Teil der Agile-Community erst mal vor den Kopf stößt. Am 03.01.2025 wurde die Nachricht veröffentlicht, dass am 31.12.2004 eine Vereinbarung unterschrieben haben und damit jetzt Teil des PMI (Project Management Institutes sind.
“The agreement marks the beginning of a new phase of global development for Agile Alliance, now operating as PMI Agile Alliance. Together, PMI and PMI Agile Alliance, global leaders in the project and Agile communities, create greater opportunities for professionals worldwide to maximize the value delivered through projects, product delivery, and transformations.“
Zusammenschluss
Die Agile Alliance und das Project Management Institute (PMI) haben sich zu einer neuen Organisation zusammengeschlossen: der PMI Agile Alliance. Dieser Schritt vereint zwei bedeutende Akteure im Bereich des Projektmanagements und der agilen Methoden.
Hintergrund der Organisationen
Die Agile Alliance ist eine globale, gemeinnützige Mitgliederorganisation mit Fokus auf Anwendung der Werte und Prinzipien des Agilen Manifests. Das Project Management Institute (PMI) wurde bereits 1969 gegründet und hatte im Jahr 2020 über 600.000 Mitglieder weltweit. Es ist damit die weltweit größte Projektmanagement-Organisation, Herausgeber des PMBOK Guide und anderer Standards seit bald 30 Jahren.
Bedeutung des Zusammenschlusses
Dieser Zusammenschluss deutet auf die im Artikel formulierte Entwicklung hin. Agile Methoden werden mehr und mehr integriert. Agilität wird zunehmend als wichtiger Standard im Projekt- und Produktmanagement betrachtet. Damit ist auch das Ende der Abgrenzung erreicht. “Agile” verliert seine Rolle als Alleinstellungsmerkmal im Markt. Agile Ideen werden in einem ganzheitlichen Ansatz in umfassendere Konzepte, Frameworks und Rollen integriert und damit entsteht eine Normalisierung. Agile Methoden werden als selbstverständlicher Teil moderner Managementpraktiken angesehen, ohne ein separates Label zu benötigen.
Diese Entwicklung zeigt, dass die einst revolutionären agilen Ideen nun in den Mainstream des Projektmanagements übergehen, um stärker integriert dort ihre transformative Kraft zu entfalten.
(Das Bild ist mit ChatGPT generiert.)