Agilität: Realistisch werden

Wenn ich heutzutage bei LinkedIn Beiträge rund um Agilität lese, kommt mir vieles sehr bekannt vor. Die Argumentationen und Gedankengänge sind für mich nachvollziehbar und erinnern mich stark an meine eigenen Sichtweisen vor etwa zehn bis fünfzehn Jahren. Damals habe ich ähnlich gedacht und argumentiert.

Heute, nach einem weiteren guten Jahrzehnt Berufserfahrung, sehe ich manches anders, oder vielleicht nicht mal generell anders, aber differenzierter. Ich habe manches funktionieren erlebt, manches auch nicht und ähnliche Situationen aus unterschiedlichen Rollen mit verschiedenen Perspektiven betrachten können. Aus diesen Erfahrungen habe ich bestimmte Schlüsse gezogen.

Agilität ist nicht tot

Für mich ist Agilität keineswegs tot, auch wenn einige Stimmen nach Jahren frustrierender Erfahrungen genau das behaupten. Die Kernkonzepte der Agilität – Transparenz, Selbstorganisation und kontinuierliche Verbesserung – bleiben wertvoll, besonders in Wissens- und Kreativberufen. Doch wie so oft liegt der Teufel im Detail der individuellen Situation.

Agile Frameworks wie Scrum, Kanban, Scrum of Scrums, LeSS und von mir aus auch SAFe haben in vielen Unternehmen für Aufbruchstimmung gesorgt. Der Traum von mehr Flexibilität und Eigenverantwortung motivierte zahlreiche Organisationen zu “Agilen Transformationen“. Doch nach der anfänglichen Euphorie melden sich immer wieder oder immer mehr kritische Stimmen: Einige Unternehmen ziehen sogar ihre agilen Strukturen zurück. Wurde das Konzept überschätzt oder einfach falsch angewendet? Die Realität liegt zwischen diesen Extremen. Oft war die Umsetzung zu vereinfacht und ignorierte den spezifischen Kontext der Organisation. An manchen Stellen sollten Führungskräfte sie als eine Toolbox in ihrem Bereich einführen, statt Agilität als grundsätzliches Konzept der Zusammenarbeit zu betrachten. An anderen Stellen wurden ganze Strukturen verändert, ohne die Prozesse der Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens und zu Kunden mit zu berücksichtigen. Lokale Optimierungen in ausgewählten Teilbereichen sind die Regel, selten die Ausnahme.

Der Trugschluss der einfachen Lösungen

In meinen zahlreichen Diskussionen rund um Agilität begegne ich häufig dem Versuch, komplexe Probleme mit simplen „Wenn-Dann”-Argumentationen zu lösen. Sätze wie „Wir brauchen Agilität” oder „Schafft Führung ab” mögen in der Agilitäts-Bubble gut klingen, reduzieren jedoch hochkomplexe organisatorische Herausforderungen auf einfache Schlagworte. Diese Eingängigkeit erzeugt vielleicht für LinkedIn Beiträge von Beratern Aufmerksamkeit, bietet aber wenig Substanz und bleibt oft in der weiteren Auseinandersetzung oberflächlich oder zumindest ziemlich eindimensional und idealistisch.

Meiner Erfahrung nach fehlt zu häufig eine tiefere Diskussion darüber, wie Agilität wirklich in Unternehmen erfolgreich integriert werden kann. Ich habe gelernt wie entscheidend es ist, spezifische Herausforderungen bei der Einführung von Agilität zu betrachten. Dazu gehört auch zu hinterfragen, wann sie möglicherweise gar keine gute Idee ist. Diese kritische Auseinandersetzung vermisse ich oft in zu oberflächlichen Debatten. Ein solcher Hang zur Vereinfachung – erst Recht wenn ich ihn von “Experten des Fachs” wahrnehme – schadet meiner Meinung nach der Diskussion über moderne Arbeitswelten. Er führt dazu, dass viele gute Ideen unglaubwürdig oder unpraktikabel erscheinen. Und wenn Agilität eingeführt wird wie ein Hammer, für den alles ein Nagel ist, ist es nicht verwunderlich, wenn gute Konzepte in Verruf geraten, obwohl sie für manche Probleme sinnvolle Lösungen bieten könnten.

In meiner Arbeit mit verschiedenen Unternehmen ist mir immer wieder bewusst geworden, dass jede Organisation ein komplexes System mit ganz eigenen Herausforderungen und Anforderungen ist. Lösungen, die in einem Unternehmen gut funktionieren, müssen nicht zwangsläufig in einem anderen erfolgreich sein. Das gilt auf allen Ebenen – von Teams über Abteilungen bis hin zu ganzen Unternehmen oder gar Konzernen. Mit der Erfahrung und Erkenntnis habe ich gelernt, vorsichtig mit Verallgemeinerungen umzugehen.

Aus meiner Sicht sollten sich Unternehmen bewusst machen, dass die mit Agilität verbundenen Prinzipien Grundlagen und agile Methoden Vorgehensweisen bieten, die dann ihre Wirkung entfalten, wenn sie auf spezifische Situationen angepasst werden. In meiner Beratungstätigkeit betone ich immer wieder die Notwendigkeit, diese Methoden nicht nur (meist eher minimalinvasiv) einzuführen, sondern kontinuierlich weiterzuentwickeln – sei es durch Prozessveränderungen, kulturelle Anpassungen oder manchmal auch technologische Unterstützung. Nur wenn Unternehmen die Komplexität ihrer Situation anerkennen und bereit sind, maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln, können sie die Vorteile agiler Arbeitsweisen umfassender für sich nutzen.

Ein differenzierter Blick auf drei gängige Appelle

In der agilen Welt kursieren seit Jahren einige Appelle und Narrative, die sich hartnäckig halten. Als ich vor etwa 15 Jahren angefangen habe, mich mit Agilität zu beschäftigen, haben mich die einfachen Lösungen auch angesprochen. Damals habe ich diese Appelle auch unterstützt. Heute sehe ich diese Punkte differenzierter und möchte sie auf Basis meiner Erfahrung genauer beleuchten.

Agilität ist mehr als ein Schlagwort. Unternehmen, Führungsverantwortliche und Mitarbeitende, die sich mit der Einführung und Verbesserung agiler Methoden und der Entwicklung moderner Strukturen für ihren Kontext beschäftigen, brauchen konkrete Handlungsempfehlungen von Menschen mit theoretischem Wissen und praktischer Erfahrung. Diese Impulse von außen sind wichtig, um neu denken und versteckte Zusammenhänge erkennen und berücksichtigen zu können. So können Ideen und Elemente aus dem Kontext Agilität etabliert werden, um Teams und Unternehmen sowie ihre Prozesse für eine erfolgreiche Wertschöpfung unter heutigen Herausforderungen zu gestalten. Dann geht es um mehr, als einem Trend zu folgen. Es geht darum, spürbaren Nutzen zu generieren.

Appell 1:
Wir brauchen (mehr) Selbstorganisation

Das gängige Narrativ: In der aktuellen Diskussion um agile Arbeitsweisen hört man oft, dass mehr Selbstorganisation zu besseren Entscheidungen und höherer Motivation bei den Mitarbeitenden führt. Die Argumentation lautet: Teams, die näher am Kunden arbeiten, seien besser in der Lage, eigenständig zu entscheiden, weil sie die Situation besser verstehen. Gleichzeitig wird angenommen, dass Führungskräfte, die weiter vom operativen Geschäft entfernt sind, nicht über die notwendigen Detailinformationen verfügen, um wertvolle Beiträge zur Wertschöpfung zu leisten.

Eine differenziertere Perspektive:

Die Realität in Unternehmen zeigt oft ein komplexeres Bild. Entscheidungen werden sowohl in selbstorganisierten als auch in klassischen Strukturen nicht immer nur “nach oben” getragen und dabei schon gar nicht immer verlangsamt oder gar aufgehalten. Der breitere Blick von Führungskräften bietet oft eine wertvolle Ergänzung. Dazu kommt, dass Teams nicht selten die nötige Sicherheit oder das umfassende Wissen fehlt, um nicht nur lokal optimierte, sondern umfassendere fundierte Entscheidungen im Sinne des Unternehmens zu treffen.

Es ist auch ein Trugschluss zu glauben, dass eine Beteiligung am Entscheidungsprozess automatisch zu höherem Engagement und mehr Motivation führt. Wirkliches Commitment entsteht nicht nur durch Mitbestimmung, sondern vor allem durch das Vertrauen, dass die besten Ideen – unabhängig von ihrer Herkunft – berücksichtigt werden und die Erfahrung, dass Entscheidungen vieler auch zu in Summe besseren Ergebnissen führt. Das bedeutet, dass wertvolle Perspektiven beispielsweise von Führungskräften ausgeblendet oder als “top-down” und “zu weit weg vom Kunden” abgetan werden. Hinzu kommt, dass es in Teams bei einzelnen Mitgliedern immer wieder an der Bereitschaft mangelt, eigene Ideen zugunsten einer besseren Gesamtlösung zurückzustellen, was Entscheidungen verlangsamt oder zu wenig innovativen Kompromissen führt.

Die Rolle der Führung

Führungskräfte können in diesem Kontext eine wichtige unterstützende Rolle einnehmen. Abgesehen von ihrem oft wertvollen inhaltlichen Input, können sie ihren Teams Werkzeuge an die Hand geben, die Entscheidungsprozesse erleichtern und klar kommunizieren, wann zentrale Entscheidungen notwendig sind. Es geht also nicht darum, Führung komplett abzuschaffen, sondern eine Balance zwischen Selbstorganisation und zentraler Steuerung zu finden.

Weitere Gedanken dazu

Die Komplexitätstheorie von beispielsweise Niklas Luhmann bietet einen wertvollen Rahmen für das Verständnis von Selbstorganisation in Unternehmen. Sie betont, dass komplexe Systeme nicht linear gesteuert werden können und dass das Entstehen neuer Eigenschaften aus dem Zusammenspiel der Teile eine zentrale Rolle spielt. Hiervon lässt sich ableiten, dass Selbstorganisation in bestimmten Kontexten vorteilhaft sein kann. Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass beispielsweise Hierarchien und Führung ebenso zentrale Elemente von Organisationen sind.

Forschungen aus der Organisationspsychologie lassen den Schluss zu, dass Autonomie zwar ein wichtiger Faktor für Arbeitszufriedenheit und Motivation ist, aber nicht isoliert betrachtet werden sollte. Weitere Faktoren wie Aufgabenbedeutsamkeit, Rückmeldung und Fertigkeitsvielfalt spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Mitbestimmung reicht also nicht allein aus, um Motivation zu fördern. Wichtig ist das Gefühl von Wirksamkeit, das sich häufig in partizipativen Entscheidungsprozessen nicht für alle gleichermaßen ausbildet. Und mit Blick auf Entscheidungsfindung sind zusätzlich kognitiven Verzerrungen relevant. Sie zeigen, dass Menschen oft nicht so rational entscheiden, wie wir annehmen. Teams treffen also nicht zwingend bessere oder schnellere Entscheidungen, nur weil sie näher am operativen Geschäft sind.

Ein ausgewogener Ansatz

Ein differenzierter Blick auf Selbstorganisation lässt den Schluss zu, dass ein ausgewogener Ansatz vielversprechender ist. Dynamische Entscheidungsprozesse, die je nach Kontext zwischen dezentraler und zentraler Steuerung wechseln, werden wichtig. Dabei sollte der Fokus darauf liegen, die Stärken beider Ansätze zu nutzen:

  • Lokale Expertise nutzen: Teams vor Ort können oft schnell auf Veränderungen reagieren und kundennahe Entscheidungen treffen.
  • Strategische Übersicht bewahren: Führungskräfte können den übergreifenden Kontext einbringen und sicherstellen, dass Entscheidungen mit der Unternehmensstrategie im Einklang stehen.
  • Entscheidungskompetenz fördern: Durch gezielte Schulungen und Tools können Teams befähigt werden, fundierte Entscheidungen zu treffen.
  • Klare Verantwortlichkeiten definieren: Es sollte transparent sein, welche Entscheidungen auf welcher Ebene getroffen werden.
  • Feedback-Schleifen etablieren: Regelmäßige Überprüfungen der Entscheidungsqualität können helfen, den Prozess kontinuierlich zu verbessern.

Letztendlich geht es nicht um ein “Entweder-oder” zwischen Hierarchie und Selbstorganisation, sondern um ein intelligentes “Sowohl-als-auch”, das die Stärken beider Ansätze nutzt und flexibel auf die Anforderungen der jeweiligen Situation reagiert. Führungskräfte spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie können einen Rahmen für effektive Entscheidungsprozesse schaffen und gleichzeitig als strategische Ankerpunkte fungieren. Die Herausforderung für Unternehmen besteht darin, eine Balance zu finden, die einerseits die Vorteile der Selbstorganisation nutzt und andererseits die Notwendigkeit strategischer Ausrichtung und übergreifender Koordination berücksichtigt. Nur so können Organisationen in einer zunehmend komplexen und dynamischen Geschäftswelt erfolgreich navigieren und nachhaltig sowie orientiert wettbewerbsfähig bleiben.

Appell 2:
Schafft Ziele ab

Das gängige Narrativ: In der aktuellen Diskussion um agile Arbeitsweisen hört man oft, dass Unternehmensziele sowie Zielsysteme veraltet seien und flexible Zusammenarbeit behinderten. Das Argument lautet: “Ziele und die damit verbundenen Zielkaskaden führen zu Kontrolle und übermäßiger Steuerung, was flexible und autonome Zusammenarbeit behindert.” Zielkaskaden werden als übermäßig aufwändig und nicht praxisnah dargestellt, da sie zu starker Fokussierung auf individuelle Leistungen führen und die kollektive Wertschöpfung vernachlässigen sollen.

Eine differenziertere Perspektive

Ich erlebe den Umgang mit Zielen in Organisationen oft anders. Es kommt immer wieder vor, dass Ziele ein trüber Nebel am Horizont sind, die auf das operative Geschäft wenig Einfluss haben. In vielen Organisationen, häufig gerade in denen, die sich mit Agilität beschäftigen, existieren solche starren Zielstrukturen oft gar nicht. Wenn es Ziele gibt, die mehr darstellen als einen trüben Nebel, dann dienen sie immer wieder als wertvolle Orientierungshilfe, um Entscheidungen zu erleichtern und eine gemeinsame Richtung zu finden. Diskussionen im Unternehmen zu den Zielen führen oft zu einem besseren Verständnis der übergreifenden Zusammenhänge und zu einem Fokus auf das Wesentliche.

Die meisten Unternehmen, die ich erlebt habe, verfolgen einen hybriden Ansatz in Bezug auf Ziele. Sie kombinieren übergeordnete strategische Ziele mit flexibleren, kurzfristigen Zielsetzungen auf Team- oder Projektebene. Dabei werden Ziele oft als Orientierungsrahmen verstanden, innerhalb dessen Teams autonom agieren können. Zunehmend populär ist das Modell der OKRs (Objectives and Key Results), das auf eine Balance zwischen klarer Ausrichtung und Flexibilität in der Umsetzung abzielt und dabei von starren Jahres- auf flexiblere Quartalsziele wechselt. Auch die häufigere Überprüfung und Anpassung von Zielen, um auf sich schnell ändernde Marktbedingungen reagieren zu können, nehme ich immer häufiger wahr. Und individuelle Jahresziele werden auch verstärkt unterjährig angepasst, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Nicht zuletzt wird in vielen Organisationen der Prozess der Zielformulierung neu gestaltet, um mehr Menschen einzubeziehen und so die Akzeptanz und Wirksamkeit der Ziele zu erhöhen.

Die Rolle der Führung

In diesem Kontext wandelt sich auch die Rolle der Führungskräfte. Statt Ziele top-down vorzugeben und deren Erreichung zu kontrollieren, besteht ihre Aufgabe zunehmend darin, den Rahmen für eine effektive Zielentwicklung und -verfolgung zu schaffen. Führungskräfte moderieren den Zielfindungsprozess, stellen sicher, dass die Ziele mit der Unternehmensstrategie im Einklang stehen, und unterstützen ihre Teams bei der Umsetzung. Sie fungieren an der Nahtstelle zwischen ihrem Verantwortungsbereich und der Umgebung als Vermittler und Übersetzer und fördern eine Kultur, in der Ziele als Orientierung und Motivation dienen, nicht als Instrument der Kontrolle. Dabei ist es wichtig, dass Führungskräfte die Balance zwischen Vorgabe und Freiraum finden, um sowohl Richtung zu geben, als auch Raum für Innovation und Selbstorganisation zu lassen. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, die Verbindung zwischen individuellen, Team- und Unternehmenszielen herzustellen und dabei Flexibilität für notwendige Anpassungen zu bewahren.

Weitere Gedanken dazu

Aus systemtheoretischer Sicht müssen Ziele dynamischer und flexibler gestaltet werden. Gleichzeitig betont auch Niklas Luhmann die Bedeutung von Zielen für die Selbststeuerung von Organisationen. Anstatt Ziele vollständig abzuschaffen, könnte man auf emergente Zielsysteme setzen, die sich im Laufe der Zusammenarbeit organisch entwickeln. Dabei sollten Ziele weniger als Kontrollelement, sondern als adaptiver Kompass dienen, der regelmäßig überprüft und angepasst wird.

Man sollte dabei auch nicht vergessen, dass spezifische und herausfordernde Ziele in der Regel zu besseren Leistungen führen als vage oder leichte Ziele. Der Trick liegt also darin, Ziele SMART so zu gestalten, dass sie das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstverwirklichung fördern, anstatt sie zu unterdrücken. Eine partizipative Zielentwicklung kann die Identifikation von mehr Mitarbeitenden mit den Zielen erhöhen.

Ein ausgewogener Ansatz

Auch bei Zielen empfiehlt sich ein ausgewogener Ansatz und differenzierter Blick auf Ziele. Konkreter bedeutet das:

  • Flexible Zielsysteme: Entwicklung von Zielsystemen, die regelmäßig überprüft und angepasst werden können.
  • Partizipative Zielentwicklung: Einbeziehung der Mitarbeitenden in den Prozess der Zielformulierung.
  • Balance zwischen Orientierung und Autonomie: Ziele als Rahmen, der Orientierung gibt, aber gleichzeitig Raum für autonomes Handeln lässt.
  • Fokus auf kollektive Wertschöpfung: Gestaltung von Zielen, die teamübergreifende Zusammenarbeit fördern.
  • Regelmäßige Reflexion: Etablierung von Routinen zur Überprüfung und Anpassung von Zielen.

Letztendlich geht es nicht darum, Ziele komplett abzuschaffen. Besser ist aus meiner Sicht, sie so zu gestalten, dass sie den Anforderungen moderner Organisationen unter den aktuellen sich schnell verändernden Rahmenbedingungen gerecht werden. Ziele können richtig eingesetzt weiterhin eine wichtige Rolle für die Orientierung und Motivation in Unternehmen spielen. Der Schlüssel liegt in der flexiblen und partizipativen Gestaltung von Zielsystemen, die sowohl strategische Ausrichtung als auch autonomes Handeln ermöglichen.

Appell 3:
Wir brauchen flache Hierarchien

Das gängige Narrativ: In der aktuellen Diskussion um moderne Organisationsformen hört man oft, dass starke Hierarchien Innovation verhindern, für Ohnmacht sorgen und gute Zusammenarbeit blockieren. Das Argument lautet: “Starke Hierarchien verhindern Innovation, weil sie Machtverhältnisse verfestigen, die Menschen in ihrer Kreativität einschränken.” Diese Sichtweise geht davon aus, dass flache Hierarchien automatisch zu mehr Eigenverantwortung, Innovation und Motivation führen.

Eine differenziertere Perspektive

In der Praxis sind Hierarchien per se nicht das Problem, sondern werden mit zunehmender Unternehmensgröße sogar unverzichtbar. Das Bild ist also komplexer. Die eigentliche Herausforderung entsteht, wenn die Macht aus Hierarchien missbraucht oder Hierarchien nicht zielführend für das Unternehmen genutzt werden. In vielen Projekten hat sich gezeigt, dass klare Verantwortlichkeiten und Entscheidungswege Innovation sogar beschleunigen können. Besonders in großen, stark vernetzten Unternehmen helfen klare Hierarchien oft, den Überblick zu behalten und Innovationen nachhaltig umzusetzen.

Die Lösung liegt nicht in der pauschalen Abflachung von Hierarchien, sondern in ihrer flexiblen Gestaltung. Viele Unternehmen experimentieren heute mit hybriden Modellen, die die Vorteile hierarchischer Strukturen mit den Stärken vertikaler strukturierter Organisationsformen kombinieren. Matrixstrukturen können – bei allen Nachteilen die auch sie mit sich bringen – beispielsweise die Anpassungsfähigkeit erhöhen, ohne manche Vorteile hierarchischer Ordnung aufzugeben. Zunehmend setzen Organisationen auch auf dynamische Hierarchien, die je nach Projekt oder Aufgabe flexibel angepasst werden können. Der Fokus verschiebt sich von starren Hierarchieebenen hin zu Netzwerken von Experten, die je nach Bedarf zusammenarbeiten. Gleichzeitig wird die regelmäßige Überprüfung und Anpassung der Organisationsstruktur zu einem wichtigen Bestandteil des Managementprozesses, um dauerhaft ihre Wirksamkeit wahrscheinlicher zu machen.

Die Rolle der Führung

Auch in diesem Kontext verändert sich die Rolle der Führungskräfte. Statt primär Anweisungen zu geben und Kontrolle auszuüben, besteht ihre Aufgabe in hybriden Modellen zwischen Selbstorganisation und Hierarchie zunehmend darin, den Rahmen für effektive Zusammenarbeit zu gestalten. Führungskräfte werden zu Vermittlern zwischen verschiedenen Hierarchieebenen und Abteilungen. Sie müssen in der Lage sein, flexibel zwischen direktiver Führung und unterstützender Moderation zu wechseln. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, Vertrauen und Transparenz zu fördern, in der Hierarchien als unterstützendes Element und nicht als Hindernis wahrgenommen werden. Führungskräfte spielen eine Schlüsselrolle bei der Balance zwischen notwendiger Struktur und der Förderung von Innovation und Eigenverantwortung.

Weitere Gedanken dazu

Aus systemtheoretischer Sicht sind Hierarchien ein Mittel zur Komplexitätsreduktion in Organisationen. Sie ermöglichen es, Verantwortlichkeiten zuzuordnen, in denen Entscheidungen getroffen werden. Gleichzeitig betont auch die Systemtheorie die Bedeutung von Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Ein möglicher Ansatz wäre die Implementierung des Konzepts der “erforderlichen Vielfalt” in der Organisationsstruktur, um auf unterschiedliche Anforderungen reagieren zu können.

Das Idee der “erforderlichen Vielfalt” ist generell interessant für moderne Organisationsstrukturen. Sie sagt, dass Unternehmen über ausreichend interne Vielfalt verfügen sollten, um effektiv auf verschiedene Herausforderungen ihrer Umwelt reagieren zu können – allerdings ohne dabei die gesamte Komplexität der Umwelt abzubilden. (Würden sie das tun, gäbe es keine Abgrenzung zur Umwelt mehr.) Für Organisationen bedeutet das, auch hier eine Balance zu finden: Zum einen geht es darum eine Struktur zu schaffen, die flexibel genug ist für unterschiedliche Marktanforderungen, Kundenerwartungen und technologischen Veränderungen. Zum anderen geht es auch um die Reduktion der Komplexität durch klare Strukturen und Prozesse. Konkret könnte das durch gezielte Diversität in interdisziplinären Teams, anpassungsfähige Entscheidungsprozesse und eine Kultur des kontinuierlichen Lernens erreicht werden, während gleichzeitig Hierarchien und klare Verantwortlichkeiten für Stabilität und Effizienz sorgen. Und es gibt sicher auch andere Ideen, die sich für andere Unternehmen besser eignen.

Klar ist aus meiner Sicht, dass gut gestaltete Hierarchien Effektivität fördernde Orientierung und Sicherheit und damit auch einen wesentlichen Beitrag zu psychologischer Sicherheit bieten können. Klar ist dabei auch, dass psychologische Sicherheit nicht zwingend etwas mit gut gestalteten Hierarchien zu tun haben muss. Der Fokus sollte darauf liegen, eine Umgebung zu schaffen, in der Menschen sich sicher fühlen können, Risiken einzugehen und innovativ zu sein.

Ein ausgewogener Ansatz

Moderne Organisationen brauchen nicht zwingend komplette Selbstorganisation oder möglichst flache Hierarchien. Auch hier ist ein ausgewogener Ansatz vielversprechender:

  • Flexible Hierarchien: Entwicklung von Strukturen, die sich an verändernde Anforderungen anpassen können.
  • Balance zwischen Struktur und Flexibilität: Nutzung von Hierarchien für Klarheit und Effizienz, bei gleichzeitiger Förderung von Innovation und Eigenverantwortung.
  • Fokus auf Kommunikation: Verbesserung der Kommunikation zwischen verschiedenen Hierarchieebenen.
  • Regelmäßige Überprüfung: Kontinuierliche Evaluation und Anpassung der Organisationsstruktur.
  • Förderung des Vertrauens: Schaffung eines Umfelds, in dem Hierarchien als unterstützendes Element wahrgenommen werden.

Letztendlich geht es nicht darum, Hierarchien komplett abzuschaffen, sondern sie so zu gestalten, dass sie den Anforderungen moderner, agiler Organisationen gerecht werden. (Nach deutschem Recht hat es in Unternehmen ohnehin immer mindestens eine Hierarchieebene – die Geschäftsführung.) Gut gestaltete Hierarchien können weiterhin eine wichtige Rolle für die Effektivität und Orientierung in Unternehmen spielen. Der Schlüssel liegt in der flexiblen Gestaltung von Organisationsstrukturen, die sowohl Klarheit als auch Innovation ermöglichen. Organisationen sollten daher einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der die Vorteile hierarchischer Strukturen nutzt und gleichzeitig deren Nachteile minimiert, um eine effektive und zufriedenstellende Arbeitsumgebung für alle Mitarbeitenden zu schaffen.

Eine reflektierte Sicht auf Agilität

In meiner beruflichen Laufbahn habe ich gelernt, dass viele Herausforderungen durch einfache Narrative beschrieben und weitergetragen werden. Einige dieser Narrative treffen zumindest auf meine eigene Realität aber gar nicht (mehr) zu – zumindest nicht in der Form, in der sie oft dargestellt werden. Vielleicht liegt es daran, dass ich heute aus einer anderen Rolle und Perspektive auf die gleichen Themen blicke, vielleicht an 15 Jahren Erfahrung oder daran, dass sich die Welt weiter gedreht hat.

Agilität differenziert betrachten

Ich halte es für wichtig, Agilität weder zu idealisieren oder sie als Allheilmittel zu betrachten, noch sie als unbrauchbar abzutun, weil nicht alles funktioniert wie angepriesen. Die wahre Herausforderung besteht in der Einbeziehung verschiedener Perspektiven, statt sich in vereinfachten Appellen zu verlieren. Wir sollten den Problemraum verstehen, bevor wir zu schnellen Lösungsfindungen übergehen und dann Lösungen entwickeln, die den aktuellen sehr individuellen Rahmenbedingungen gerecht werden.

Balanceakte in agilen Organisationen

Mehr Selbstorganisation führt nicht automatisch zu besseren Ergebnissen, ebenso wenig wie die pauschale Abschaffung von Zielen oder Hierarchien. Stattdessen braucht es eine ausgewogene Herangehensweise:

  • Selbstorganisation: Es gilt, eine Balance zwischen Autonomie und Orientierung zu finden. Führung (mindestens als soziale Dynamik) schafft den Rahmen für effektive Entscheidungsprozesse, stellt Entscheidungen sicher und fungiert als strategischer Ankerpunkt.
  • Ziele: Anstatt Ziele abzuschaffen, sollten wir sie als flexiblen Orientierungsrahmen verstehen. Moderne Ansätze müssen geschickt balancieren zwischen klarer Ausrichtung und Anpassungsfähigkeit.
  • Hierarchien: Gut strukturierte (und/oder flexible) Hierarchien können Orientierung und Sicherheit bieten, während sie gleichzeitig Raum für Innovation und Eigenverantwortung lassen.

Keine „richtige” Lösung für alle Situationen

Agilität ist nicht tot, aber sie ist auch kein Wundermittel. Es gibt keine „richtige” Lösung für jede Situation. Stattdessen sollten wir Systeme schaffen, die erfolgreich in einer komplexen, dynamischen Welt funktionieren. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass auch wir uns anpassen müssen als Teil des großen ganzen Systems. Auch und gerade als Verfechterinnern und Verfechter von Agilität.

Das bedeutet vor allem die Anpassung der Rolle der Führungskräfte. Statt primär Anweisungen zu geben und Kontrolle auszuüben, besteht ihre Aufgabe zunehmend darin, den Rahmen für effektive Zusammenarbeit zu gestalten. Sie müssen in der Lage sein, flexibel zwischen direktiver Führung und unterstützender Moderation zu wechseln, um sowohl Orientierung zu geben als auch Raum für Innovation und Selbstorganisation zu lassen, mal Entscheidungskompetenzen übertragen und manchmal auch selbst entscheiden.

Die Realität akzeptieren und flexibel bleiben

Auch wenn uns bestimmte Situationen nicht gefallen, wir sie als verbesserungswürdig wahrnehmen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie für den gesamten Wertschöpfungsprozess hinderlich sind. Der Schlüssel liegt in einer dauerhaften Flexibilität bei ausreichender Stabilität und in der Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven. Es ist wichtig diese Perspektiven zu integrieren und die Realität mit allen Facetten so zu akzeptieren, wie sie ist – nicht, wie wir sie uns wünschen – und in dieser Realität zu gestalten. Dabei ist es wichtig, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen, der die Vorteile verschiedener Organisationsformen nutzt und gleichzeitig deren Nachteile minimiert, um eine effektive und zufriedenstellende Arbeitsumgebung für alle Mitarbeitenden zu schaffen. Und wer weiß? Vielleicht kommen wir über den Weg nach vielen weiteren Jahren der Organisationsgestaltung zu Unternehmen, in deren Kontext wir auch in größeren Unternehmen ohne konkrete Ziele zu formulieren selbstorganisiert in ganz flachen Hierarchien effektiv Wertschöpfung erbringen werden.

Welche Narrative und Appelle kennst du noch, die aus deiner Sicht hinterfragt und differenzierter betrachtet werden sollten?

(Das Bild ist mit Adobe Firefly generiert!)

About the author

Daniel Dubbel

Agility Master | COO, HOUSE OF MOBILE @ DB Systel | Deutsche Bahn
Agile Transformation & Digital Strategy Expert | P&L Leader | Driving Growth through Innovation & Organizational Change | C-Level Advisor

By Daniel Dubbel

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