Als jemand, der nun bald zehn Jahre lang agile Veränderungsbemühungen beobachtet (und oft genug auch aktiv betreibt), beschäftigt mich eine Frage regelmäßig: Warum bewirken nur so wenige Transformationen überhaupt irgendeine spürbare Veränderung?
Selbst Unternehmen, die konsequent alle Rollen “agil” neu definiert, alle Projekte auf Scrum umgestellt, alle Teams in Squads umbenannt haben, sehen spätestens aus Kundensicht hinterher doch irgendwie genau so aus wie vorher. Weder sind innovativere Produktideen zu sehen, noch hat sich die Time to Market wesentlich verbessert oder ist die Servicequalität gestiegen. Wir können also die nicht besonders überraschende Schlussfolgerung ziehen, dass das Einführen von agilen Begrifflichkeiten allein auf den Markterfolg einer Organisation nahezu keinen Einfluss hat.
Eine Feststellung
Mittlerweile ist es auch den Führungskräften dieser Organisationen aufgefallen: in einer Fraunhofer-Studie bezweifelt locker die Hälfte der befragten Manager*innen, dass ihre Organisation im Zweifelsfall flexibel genug für notwendige Veränderungen ist – besonders unterhaltsam natürlich, da es ja genau diese Führungskräfte wären, in deren Einfluss die Veränderung der angeblich so steifen Strukturen liegen würde.
Jetzt mit dem Finger auf die Chefs zu zeigen, wäre aber genauso kurzsichtig wie die aus der Studie zitierte Behauptung, dass erst “bestimmte Personen das Unternehmen verlassen” müssten, um eine Veränderungsbereitschaft herzustellen. Nein, meine Hypothese ist eine andere:
Viele Veränderungsinitiativen in Organisationen sind von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil kaum verstanden wurde, was Organisationen überhaupt sind. Damit kann es auch kein Verständnis geben, was eigentlich verändert werden muss und wie man auf das Objekt der Veränderung Einfluss nehmen kann.
Als Organisationsberater oder -entwickler sollte man in meinen Augen zumindest die Frage beantworten können, was eine Organisation ist und wie sie funktioniert. Das gerne etwas differenzierter, als nur ein Organigramm auf ein Flipchart zu kritzeln. Es ist entscheidend, welche mentalen Modelle man für das tägliche Beobachten und Handeln heranzieht, in welchen Kategorien wir also denken, wenn wir versuchen, das Geschehen um uns herum zu begreifen. Was könnte also wichtiger für die Arbeit mit Organisationen und Menschen sein als die Frage, wie wir Organisationen und Menschen betrachten?
In diesem Beitrag will ich versuchen, eine von mir verwendete Sichtweise auf Organisationen zusammenzufassen, die sich stark um das Thema Entscheidungen dreht. Meine Sicht ist sicher systemtheoretisch geprägt und ich finde sie im Alltag sehr nützlich, würde aber nicht behaupten wollen, dass das Folgende alles systemtheoretisch sattelfest ist, geschweige denn dass es eine ausreichende Einführung in die Systemtheorie von Organisationen sein könnte. Ein paar für mich hilfreiche Literaturtipps hänge ich an den Beitrag an, für die, die mehr lesen wollen.
Die Organisation als Entscheidungskette
In dieser Sichtweise sind Organisationen soziale Systeme, die aus Kommunikation bestehen – im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung, dass Organisationen aus Menschen bestehen würden1. Diese Kommunikation kann verschiedene Formen annehmen: gesprochene Sprache natürlich, E-Mails, Dokumente, Regeln, Rollenbeschreibungen, Prozesse, Verträge, Grafiken, Symbole, ungeschriebene Regeln im kollektiven Bewusstsein, kulturelle Rituale und Traditionen, informelle Hackordnungen, inoffizielle Machtstrukturen, persönliche Netzwerke und so weiter.
All diese Kommunikationsformen sind Ergebnis von Entscheidungen, die irgendwann von irgendwem getroffen wurden – bewusst oder unbewusst. Man kann also den Standpunkt einnehmen, dass Organisationen eigentlich nur Ketten von Entscheidungen sind, die zu Entscheidungen führen, die zu Entscheidungen führen, und so weiter. Alles, was wir dann im täglichen Leben als “die Organisation” bezeichnen, wäre in dieser Sicht allein die Dokumentation bzw. die praktische Realisierung dieser Entscheidungen. Auch wenn diese Betrachtungsweise sicher etwas einseitig ist, wird klar: wann wie durch wen Entscheidungen getroffen werden, beeinflusst grundsätzlich, wie attraktiv die Organisation als Arbeitgeber ist, welche Produkte gebaut werden, wie effizient die Abläufe sind, ob ein Unternehmen profitabel ist oder Insolvenz anmelden muss.
Was ist eine Entscheidung überhaupt?
An dieser Stelle lohnt es sich, zu klären, was eine Entscheidung eigentlich ist. Bei einer Entscheidung wird aus einer Menge von Handlungsmöglichkeiten eine Auswahl getroffen. Es wird also immer erst mal gegen etwas entschieden, und erst in zweiter Konsequenz für etwas. Interessant finde ich, dass sich durch den reinen Prozess des Entscheidens eigentlich noch nichts ändert, die übrigen Optionen gibt es ja weiterhin. Die Entscheidung selbst besteht nur darin, so zu tun, als ob die anderen Optionen nicht mehr in Frage kommen würden. Entscheidungen selbst haben also überhaupt keine Auswirkung, es sei denn sie werden auch in konkretes Handeln übersetzt, wie schon so mancher Lenkungskreis unsanft herausfinden durfte. Vor diesem Hintergrund wirkt die strenge Trennung von Entscheidung und Umsetzung, wie sie in vielen Organisationen realisiert ist, eher fragwürdig.
Auch die Frage, wer da entscheidet, ist gar nicht so offensichtlich zu beantworten. In der Regel ist eine Entscheidung das Ergebnis von Kommunikationsprozessen (und gleichzeitig der Anfang für neue). Diese Kommunikationsprozesse beeinflussen wesentlich, wie die Entscheidung ausfällt. Wir sind also nicht so frei in “unseren” Entscheidungen, auch wenn wir uns das selbst oft vormachen. An Phänomenen wie dem Groupthink sieht man das besonders deutlich. Um Organisationen zu verstehen, reicht es an dieser Stelle aber, dass Entscheidungen am Ende einer Person oder Gruppe zugeordnet werden können.
Entscheidungen in Organisationen
In einer Organisation kann nicht jeder “Entscheider” auch jede mögliche Entscheidung treffen. Bei vielen Themen werden Entscheidungen nur akzeptiert, wenn sie bestimmte Personen getroffen haben. Wer dabei was entscheiden darf, ist eine zentrale Frage der Organisationstruktur. Darf etwa ein normaler Mitarbeiter entscheiden, sich selbst das Gehalt zu erhöhen? In vielen Organisationen wäre das undenkbar, es gibt aber auch Beispiele, bei denen das möglich und akzeptiert ist.
Entscheidungen werden nicht zufällig gefällt. Sie bilden Muster aus, bei denen ähnliche Entscheidungen immer wieder auf ähnliche Art getroffen werden. Und hier kommen wir dann schon zur Kernthese dieses Beitrags:
Ob eine Maßnahme in der Organisation spürbare Veränderungen bewirkt, hängt direkt damit zusammen, ob sie sich auf die Entscheidungsstrukturen auswirkt oder nicht.
Eine Handlung, die Entscheidungen beeinflusst, wird kurzfristig Wirkung entfalten. Eine Handlung, die Entscheidungsmuster verändert, wird die Organisation auch langfristig prägen.
Jetzt wäre es natürlich praktisch, wenn man einfach verändern könnte, wie Menschen Entscheidungen fällen, zum Beispiel, in dem man beschließt, dass ab sofort alle nach dem agilen Mindset zu handeln haben. Leider ist nicht direkt entscheidbar, wie eine Entscheidung getroffen wird. Entscheidungen werden im Kopf von Menschen gefällt, der Moment ihres Entstehens ist für die Organisation nicht direkt zugänglich. Stattdessen kann die Organisation nur versuchen, häufige Einflussfaktoren auf diese Entscheidungen zu verändern, sogenannte Entscheidungsprämissen. Wenn Menschen darüber sprechen, “am System” zu arbeiten, Strukturen anzupassen oder die Organisation zu “entwickeln”, ist das Ziel eine Veränderung der Entscheidungsprämissen der Organisation. Von denen gibt es verschiedene Arten:
- Entscheidungsprämissen, über die explizite Entscheidungen gefällt wurden, werden oft die “Formalstruktur” der Organisation genannt. Beispiele: eine neue Stelle zu schaffen, eine Rollenbeschreibung zu ändern, einen Prozess einzuführen oder abzuschaffen sind Änderungen an der Formalstruktur.
- Zahlreiche Entscheidungsprämissen existieren auch ohne dass je darüber entschieden worden sein müsste. So haben gerade in der IT relativ wenige Unternehmen einen expliziten Dresscode, was aber nicht verhindert, dass sich eine Art inoffizielle Kleiderordnung etabliert. Diese könnte man formalisieren, hat darauf aber aus verschiedenen Gründen verzichtet. Solche ungeschriebenen Regeln bilden einen Teil der Organisationskultur.
- Der andere Teil der Organisationskultur sind Entscheidungsprämissen, über die gar nicht entschieden werden kann. Zum Beispiel beschreibt der Begriff “Fehlerkultur” die soziale Erwartung, dass Entscheidungen rund um Negativereignisse mit einem Fokus auf Lernen und Verbesserung getroffen werden und auf Sanktionen, soweit möglich, verzichtet wird. Man kann aber leider nicht entscheiden, dass die Organisation jetzt eine Fehlerkultur haben wird. In der Praxis wird deshalb regelmäßig in Vorträgen und Ansprachen – etwas hilflos wirkend – danach gerufen, oft ohne konkrete Vorschläge zu machen wie man eine solche Kultur herbeiführen könnte, weil es natürlich auch keine logische Abfolge von Schritten gibt, mit denen man eine solche Kultur “implementieren” könnte.
Nichttriviale Veränderung in Organisationen zu bewirken bedeutet also, die Muster in der Entscheidungsfindung zu verändern. Ein Veränderungsvorhaben, welches diesen Namen auch verdient, sollte also neue Antworten anbieten können auf Fragen wie
- Wie kommen Entscheidungen zustande?
- Wessen Meinung wird in welche Entscheidungen mit einbezogen?
- Welche Informationen werden für Entscheidungen als relevant betrachtet?
- Wessen Entscheidung zu welchen Themen wird als gültig akzeptiert?
- Wie frei sind Entscheider in ihren Entscheidungen zu welchen Themen?
Viele dieser Themen tangieren direkt die formalen Organisationsstrukturen und wollen gut überlegt werden. Gibt es etwa zu einem Thema vordefinierte Prozesse, oder nur grob formulierte Erwartungen? Wo möchte man Flexibilität schaffen, wo eher nicht? Was soll formalisiert werden, und wo wird von Formalisierung besser bewusst Abstand genommen? Diese Fragen sind erfahrungsgemäß für Personen in der Formalstruktur – beispielsweise Manager – schwierig zu beantworten, weil aus der formalen Struktur heraus die informellen Teile der Organisation oft nicht gut zu beobachten sind. Für das Management scheinen die vielen ungeschriebenen Regeln und sozialen Erwartungen im operativen Geschäft schlichtweg nicht zu existieren – man läuft Gefahr, “das Organigramm” für die komplette Organisation zu halten. Wie man dieses Problem umschifft, dazu später noch ein paar Ideen.
Anwendungsbeispiele
Damit das hier keine komplett theoretische Betrachtung wird, hier ein paar Beispiele, wie man diese Ideen in praktischen Überlegungen anwenden kann.
Agile Transformation: eher top-down, oder eher bottom-up?
Durch die Brille der Entscheidungsstrukturen betrachtet, sind natürlich beide Antworten falsch. Rein bottom-up kann relevante Veränderung gar nicht stattfinden, weil den Initiatoren einer Veränderung die Autorisierung fehlt, Entscheidungen über die Entscheidungsstrukturen der Organisation zu treffen. Agile Ansätze oder “Selbstorganisation” dagegen über top-down Entscheidungen “einzuführen” konterkariert das komplette Vorhaben, weil ein wesentlicher Mehrwert agiler Ansätze eine Dezentralisierung der Entscheidungsbefugnisse ist, also genau das Gegenteil von der Intention, die das Management durch solch eine Machtentscheidung demonstriert.
Wirksame Transformation wird in meiner Wahrnehmung immer von außen nach innen stattfinden. Das bedeutet, durch Marktdruck werden Veränderungen der Entscheidungsstrukturen notwendig, die dann nach innen in die Organisation hinein Konsequenzen nach sich ziehen. Bei diesem Veränderungsprozess geht es weder ohne die umfangreiche Markt- und Arbeitserfahrung der normalen Mitarbeiter, noch ohne die Entscheidungsbefugnisse der Hierarchie.
Bringt es etwas, Methoden wie Scrum einzuführen?
Konsequent angewendet, verlagert Scrum bewusst Entscheidungen über Arbeitsmenge, Umsetzung und Qualität in das Entwicklungsteam, zieht die Verantwortung über Produktfeatures und Priorisierung in einer Person zusammen, bezieht Anwender und Stakeholder frühzeitig in Entscheidungen über Funktionalität mit ein. Wenn diese Punkte umgesetzt werden, wird die Methode spürbare Auswirkungen auf die umgebende Organisation haben. Der “Wert” einer Scrum-Einführung hängt direkt mit diesen Veränderungen der Entscheidungsstruktur zusammen.
Die Kernideen bei einer Scrum-Einführung aufzuweichen, wird dazu führen, dass die neue Methode nur wenig spürbare Veränderung mit sich bringt – problematisch, wenn Veränderungsdruck doch oft der initiale Auslöser für die Einführung war. Ein tragisches, aber leider nicht gerade seltenes Szenario ist sicher die klassisch aufgebautes Organisation, die unter externem Druck eine halbherzige Scrum-Einführung durchboxt, um dann mangels Erfolg das Resümee “agil funktioniert nicht” zu ziehen. Wer alles so macht, wie es immer schon gemacht wurde, wird eben bekommen, was immer schon dabei herausgekommen ist. Mehr vom Gleichen führt zu mehr vom Gleichen.
Dass Frameworks wie SAFe seit Jahren als “weichgespültes Enterprise-Agile” in der Kritik stehen, hat sicher ähnliche Gründe: Sie verkörpern den Versuch, möglichst viele agile Begrifflichkeiten in die Organisation zu bringen, bei gleichzeitig minimaler Veränderung der Entscheidungsstrukturen. Meine Meinung: Wer unter Druck steht, sich neu zu erfinden, greift besser nicht zu diesen Werkzeugen. Nützlich sind sie vor allem dann, wenn man Veränderung und Modernisierung nach außen vorspielen muss, aufgrund von Erwartungen seitens der Stakeholder, Kunden, Eigentümer oder anderen, dabei aber intern eigentlich alles so lassen will (muss?), wie es ist.
Bringt es etwas, Visionsstatements und Strategien zu formulieren?
Schriftlich formulierte Erwartungen wie Visionen, Prinzipiensätze, Strategien sind genau in dem Moment nützlich, in dem sie spürbar Einfluss auf die getroffenen Entscheidungen nehmen. Sie an die Wand zu hängen bewirkt erst einmal überhaupt nichts. Wenn man etwas anders macht, weil es die Produktvision gibt, hat sie einen Nutzen erreicht. Vieles, was im Alltag beobachtbar ist, wirkt hilflos und könnte man sich sparen. Ein Poster an der Wand, auf dem “Professionalität” steht, drückt nur eine Hoffnung des Verfassers aus. Es kommuniziert den Vorbeilaufenden sicher nichts, was sie nicht vorher schon gewusst hätten.
Was ist mit OKR, WOL, LSP?
Über den Entscheidungs-Blickwinkel lässt sich gut zusammenfassen, warum ich vielen gehypten Produkten wie OKR oder WOL oder Lego Serious Play oder auch dem sogenannten Spotify-Modell aktuell sehr skeptisch gegenüberstehe. Sie wagen sich nicht wesentlich an die Entscheidungsstrukturen der Organisation. Ob die Teams jetzt Teams oder Squads heißen, spielt kaum eine Rolle. Ob ein paar Menschen sich ein paar Wochen in einem WOL-Circle mit ihrem Kommunikationsverhalten beschäftigen, ist für den Einzelnen vielleicht spannend, für die Organisation als Entscheidungssystem aber weitgehend irrelevant. Wenn eine Management-Runde eine strategische Fragestellung mit Lego modelliert (oder sogar modellieren lässt!), um anschließend in derselben Zusammensetzung wie immer genau die Entscheidungen zu treffen, die sie sowieso getroffen hätten, ist das einfach Verschwendung von Lebenszeit. Ich will nicht ausschließen dass diese Methoden für manche Menschen einen Nutzen haben, aber als Veränderungswerkzeug fehlen ihnen die Zähne. Jeder Börsencrash hat mehr Auswirkung auf die Organisation. Und sicher trägt das auch mit zu ihrer Beliebtheit und hohen Akzeptanz bei – mit ihnen lässt sich hervorragend Aktivität und Handlungsbereitschaft demonstrieren, ohne wirklich etwas an den Strukturen der Organisation ändern zu müssen.
(Übrigens: wenn man sich von Spotify inspirieren lassen will, wären Retrospektiven mit mehreren hundert Teilnehmern ein guter Start.)
Wie man Organisationen wirklich flexibler macht
Die Wirkungslosigkeit vieler agiler Transformationen führt seit einiger Zeit zu Stimmen, die “mehr Konsequenz” fordern – ein Thema, das Tom Klose, Dierk Söllner und ich Anfang des Jahres in der DevOps Podcast-Folge “Weichgespülte Transformationen” ausführlich diskutiert haben. Gemeint ist mit “mehr Konsequenz” meistens, dass das Management nicht mit bottom-up herummachen, sondern “die Agilität” halt einfach per Machtbeschluss durchboxen soll. Aus meiner Sicht ist das ein entschlossener Schritt zurück in den Zustand von vorher, “agiler” wird die Organisation so wohl eher nicht. Die agilen Organisationen, die mir begegnet sind, zeichnen sich oft dadurch aus, dass ihre Hierarchie weitgehend unwichtig geworden ist. Hierarchische Strukturen können ihre eigene Unwichtigkeit nicht einfach beschließen, weil so ein Beschluss ja gerade betont, dass relevante Entscheidungen nach wie vor in der Hierarchie gefällt werden. Die Antwort kann aber auch nicht sein, ein Entscheidungsvakuum zu schaffen um dann zu warten und zu hoffen, dass etwas Nützliches aus der Belegschaft kommen wird.
Ein paar Vorschläge
Ich will hier nicht nur meckern, sondern auch Vorschläge machen wie man es besser machen kann. Dabei geht es mir konkret um Veränderung der Organisation hin zu mehr Flexibilität – wie man Organisationen steifer und standardisierter aufstellt, dazu gibt es da draußen sicher schon genug Ansätze und auf diesem Gebiet bin ich sowieso nicht qualifiziert.
Im Mittelpunkt steht in meinen Augen vor allem die Dezentralisierung von Entscheidungen. Zentrale Steuerung ist weder in der Lage, kurzfristig zu reagieren (weil Informationen über den Sachverhalt erst mühsam beschafft werden müssen), noch kann sie nuanciert entscheiden, weil sich die im Alltag notwendige Vielfalt nicht in Handlungsanweisungen an alle gleichzeitig abbilden lässt. Es reicht auch nicht, nur die Verantwortung “nach unten” zu schieben und gleichzeitig mit beiden Füßen auf der Bremse zu stehen! Für Produktentwicklungsteams wird es schwierig werden, einen Kunden mit neuen Ideen zu überraschen, wenn ihr eigenes Management gleichzeitig genau diese Überraschungen durch straffes Portfolio-Management zu verhindern sucht. Ja, Dezentralisierung bedeutet einen Verlust von Standardisierung, dessen muss man sich bewusst sein. Ob das für die Organisation zum Nachteil wird, da bin ich mir nicht sicher.
Unterschiedliche Teile der Organisation werden unterschiedliche Lösungen für das gleiche Problem finden, wenn man sie lässt. Liegt das nicht in der Natur der Sache? Man könnte auch effizienter Schuhe produzieren, wenn man sich mit der leidlichen Unterscheidung von linken und rechten Füßen nicht mehr aufhalten würde. Leider erkauft man sich diese Effizienzgewinne damit, dass die so produzierten Lösungen nirgendwo mehr so richtig passen wollen. Und seien wir mal ehrlich – die vielbeschworenen “Synergien” gibt es in der Regel eh nicht. Wenn zwei Unternehmensbereiche ihre leicht unterschiedlichen Arbeitsweisen angleichen sollen, führt das auf keiner der beiden Seiten zu besserer Leistung, im Gegenteil.
Ein wichtiger Schritt hin zur flexiblen Organisation sind Wechsel von Konditional- auf Zweckprogramme. In normalem Deutsch bedeutet das nichts weiter, als kleinteilige Prozessdefinitionen durch eher abstrakte Absichtsformulierungen zu ersetzen. Aus “das Hotel darf maximal 80 Euro kosten” wird “achte darauf, bei deinen Übernachtungskosten sparsam und pragmatisch zu sein”. Der einzelne Mitarbeiter gewinnt so Freiheiten, schnelle und unkomplizierte Lösungen zu finden, übernimmt aber auch gleichzeitig die Verantwortung, für diese freien Entscheidungen im Zweifel am Ende geradestehen zu müssen.
An dieser Stelle deutet sich eine weitere Möglichkeit zur Flexibilisierung der Organisation an: die historisch gewachsenen formalen Strukturen aufzuräumen und zu entrümpeln. Es ist natürlich nachvollziehbar, dass zentrale Stabsstellen über die letzten Jahrzehnte ihr einziges halbwegs scharfes Schwert, nämlich das Verfassen von Vorschriften, gerne und regelmäßig geschwungen haben. Aber wie viele dieser so entstandenen Tools, Prozesse und Richtlinien braucht die Organisation wirklich? Oder anders gefragt: wie soll in der Organisation jemals etwas Neues entstehen, wenn alle noch mit der Umsetzung des Alten beschäftigt sind? Letztendlich ist es meist einfacher, etwas Neues einzuführen, als etwas Altes abzuschaffen. Den meisten chronisch überfrachteten Organisationen sieht man diese Tatsache sehr deutlich an.
Ungünstig wäre, all diese Ideen würden so bearbeitet wie bisher – per Managementmandat an eine Stabsfunktion delegiert, die sich dann im Rahmen einer Arbeitsgruppe monatelang mit der Frage beschäftigt, wie man das in das bestehende betriebliche Vorschlagwesen integrieren könnte, um eine Entscheidungsvorlage zu produzieren, die nach Monaten weiterer Diskussion schlussendlich abgelehnt wird. Wer die Intelligenz und Kreativität der Organisationsmitglieder wirklich nutzen will, schafft offene Räume, in denen sie sich treffen, Problemwahrnehmungen austauschen und Lösungsansätze entwickeln können. Dort müssen sie auf Menschen treffen, die die notwendige Autorisierung mitbringen, diese Ideen auch in die Tat umsetzen zu können. Sorge, dass zu wenige oder zu konservative Veränderungsideen zusammenkommen könnten, braucht man bei solchen, beispielsweise Open Space-basierten Organisationsentwicklungsansätzen sicher nicht zu haben, vorausgesetzt, sie sind ernst gemeint und gekonnt realisiert.
Im Kern steht für mich die Erkenntnis, dass die Organisation so sein wird, wie in ihr täglich gehandelt wird. Solange die Prozesse die gleichen bleiben, solange alles Relevante weiterhin in den gleichen Steuerungskreisen entschieden wird, solange die relevanteste Entscheidung, die einem Mitarbeiter zugetraut wird, die ist, ob er sich über seine durchdefinierten Arbeitsprozesse eher freuen oder eher daran verzweifeln will – solange wird die agile Organisation nur auf den Folien der Marketingabteilung existieren, egal wie die neuen Positionsbeschreibungen der Managementrollen betitelt sind.
1 Die Frage, ob Organisationen aus Menschen bestehen oder nicht, ist natürlich allein eine Frage der Betrachtungsweise, ist aber nicht unwichtig. In der systemtheoretischen Sicht “endet” die Organisation spätestens an der Stirn der beteiligten Menschen, alles dahinter liegende – Gedanken, Wünsche, Emotionen – ist für die Organisation nicht zugänglich, es sei denn, der Mensch teilt es bewusst oder unbewusst mit, und macht es so zum Teil der Kommunikation. Gewissermaßen als Repräsentation des Menschen konstruieren Organisationen und andere soziale Systeme “Personen”. Das sind mit einem konkreten Menschen verknüpfte Verhaltenserwartungen, die zum Beispiel mit der in der Organisation eingenommenen Rolle zusammenhängen. So wird es für einen Menschen möglich, gleichzeitig in verschiedenen Kontexten verschiedenen Erwartungen gerecht zu werden, so dass man im Unternehmen die “Bereichsleiterin Schulze”, in der Familie “die Mama” und im Freundeskreis “die Karin” sein kann, und natürlich noch etliche weitere Rollen. Ein Vorteil dieser Sichtweise ist, dass statt des Innenlebens der Menschen ihre Interaktion in den Fokus rückt. Anders als Haltung, Überzeugungen, Emotionen o.ä. sind die Interaktionen direkt beobachtbar und können auch zu einem gewissen Grad beeinflusst und bearbeitet werden. Eine Sicht von Organisation als reinen Kommunikationssystemen hilft also dabei, sich auf die halbwegs zugänglichen Elemente des sozialen Miteinanders zu konzentrieren, anstatt zu versuchen, indirekt, quasi “durchs Schlüsselloch”, auf die psychischen Prozesse von Menschen Einfluss nehmen zu wollen.
Lesetipps
- Klaus Eidenschink: Metatheorie der Veränderung, v.a. den Abschnitt über Entscheidungsprämissen
- Stefan Kühl: Organisationen – eine sehr kurze Einführung
- Stefan Kühl: Organisationskultur: Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive
- Daniel Mezick: The OpenSpace Agility Handbook
- Niels Pfläging, Silke Herrmann: OpenSpace Beta
- Fritz Simon: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus
- Fritz Simon: Einführung in die systemische Organisationstheorie
(Das Beitragsbild stammt von Vladislav Babienko auf unsplash.com – vielen Dank!)
Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Mehrere Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten agilen Transformationen im deutschsprachigen Raum, als Seniorberater hat er zuletzt für Chili and Change Organisationen zu Veränderung, Teamentwicklung und Agilität beraten. Aktuell ist er in der Organisationsentwicklung der Seibert Group, einem kollegial geführten, agilen Softwareunternehmen tätig. Sein Buch “Selbstorganisation im Team” ist im Juni 2023 bei Vahlen erschienen.
6 Comments
Leave a CommentLieber Kai, ich liebe Deine Beiträge einfach. Wieder gekonnt aufgeklärt. Vielen Dank dafür!
Das freut mich zu hören. Danke!
Bzw. wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Ist ja bei den Lesetipps dabei … 😉
😉
Genau, den Artikel hatte ich dieses Jahr auch gelesen und er hat meinem Verständnis von nichtentschiedenen Prämissen und Organisationskultur spürbar weiter geholfen.
Sehr interessant. Dazu ist mir folgender Artikel noch eingefallen: https://pub.uni-bielefeld.de/download/2931717/2931718/K%C3%BChl%202018%20Organisationskultur%20Managementforschung.pdf
“… dass die beiden Begriffe Organisationskultur und Informalität das gleiche Phänomen bezeichnen: die nichtentschiedenen Entscheidungsprämissen einer Organisation. Dabei wird systematisch zwischen „unentscheidbaren Entscheidungsprämissen“ und „prinzipiell entscheidbaren, aber nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ unterschieden …”