Seit einigen Jahren beschäftigen sich Menschen in Unternehmen mit der Frage, wie sie sich für die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gut aufstellen können. Lange war (und häufig ist) Agilität ein Schlüsselbegriff. Bereits im Oktober 2017 habe ich eine Reihe von Blogbeiträgen geschrieben die beschreiben, warum Agilität oft scheitert. Mit dieser Erkenntnis bin ich nicht alleine. Wenn aber nicht die eher mit Methoden und Praktiken verbundene Agilität eine Lösung für die aktuellen Herausforderungen ist, was ist es dann?
Nachdem der Begriff Agilität mittlerweile oft zu einem Plastikbegriff verkommenen ist, wird nach etwas Neuem gesucht. Für die einen ist es dann New Work als neues Ideal von Arbeit, für die anderen die längst überfällige Selbstorganisation. Und nicht selten wird einfach alles durcheinander gemischt. Gerade im Kontext ganzer (agiler) Transformationen landen Agilität, Selbstorganisation und New Work wahlweise im selben Topf, und wenn es gerade im selben Topf nicht passt, fungieren die Begriffe auch als Abgrenzung – man wolle ja ein New Work Mindset, nicht zwingend agile Methoden, und Selbstorganisation sei ohnehin das eigentliche Ziel. Und wenn man dann feststellt, dass Menschen vermeintlich machen was sie wollen, sind es die Rahmenbedingungen, die natürlich in Organisationen gesetzt werden müssen. Insgesamt ergibt das alles so verkürzt in den endlosen Diskussionen wenig Sinn.
Entsprechend versuche ich hier ein paar Begriffe kurz vorzustellen, die Unterschiede der Bedeutungen knapp zu beschreiben und am Ende zu formulieren, worum es aus meiner Sicht eigentlich gehen sollte – kurzer Spoiler: Es ist viel kleiner als große theoretische Konstrukte und ist damit weder Agilität, noch New Work oder Selbstorganisation, hat aber mit allem gleichermaßen zu tun.
Ist Selbstorganisation das Ziel?
Sucht man bei Google nach Selbstorganisation, dann erhielt man vor zwei Jahren ungefähr 1,63 Millionen Ergebnisse, zum Zeitpunkt des Artikels waren es schon knapp 3 Millionen und gleich einer der ersten Links – der Verweis auf eine Erklärung des Begriffs aus der Systemtheorie – gibt wichtige Hinweise, dass in heutigen Organisationen “Selbstorganisation” gar nicht das vorrangige Thema ist.
Systemtheoretisch betrachtet bedeutet Selbstorganisation, dass die gestaltenden und formgebenden Einflüsse von den Elementen des Systems selbst ausgehen und damit eine strukturelle Ordnung und Bildung von Mustern entsteht, ohne dass dafür nachweislich äußere, steuernde Einflüsse oder spezifische Ursachen zugeordnet werden können. In der Komplexitätsforschung wird von Emergenz gesprochen.
Selbstorganisation beschreibt also die Prozesse und Interaktionen, in denen ein soziales System (beispielsweise eine Gruppe mehrerer Menschen) seine Strukturen und Vorgehensweisen selbst produziert und aufrechterhält. Aus weniger geordneten Zuständen entsteht eine beobachtbare Ordnung, die innerhalb des Systems aufrecht erhalten wird. Der Prozess der Selbstorganisation findet statt und verfolgt kein besonderes Ziel, ist also ergebnisoffen. Es entstehen dabei Praktiken und Strukturen, die innerhalb des Systems als funktional anerkannt werden. Welche das sind ist ungewiss, da abhängig von der jeweiligen Situation.
Teams und Organisationen sind soziale Systeme, die aus Sicht des Systemtheoretikers Niklas Luhmann nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation bestehen. Die Menschen eines Teams oder einer Organisation bilden in ihrer Kommunikation bestimmte Muster aus, die einander verstärken beziehungsweise ein Beharrungsvermögen haben. Diese Muster sind unterschiedlich hilfreich, weil sie beispielsweise effizientes Handeln fördern oder Orientierung schaffen. Sie können gleichzeitig auch hinderlich sein, weil bestehende Muster eine zügige Veränderung erschweren. Kommunikation findet statt, Muster in dieser Kommunikation entstehen aus sich selbst heraus.
Selbstorganisation ist also nichts, das man einführt oder fördert, sondern aus systemtheoretischer Sicht etwas, das in Organisationen schlichtweg da ist. Obwohl Selbstorganisation sozialen Systemen inhärent ist, wird der Ruf danach immer wieder laut. Da stelle ich mir die Frage, welcher tatsächliche Wunsch nicht erfüllt ist.
Selbst ist der Mensch: Ein paar weitere Begriffe
Im Zuge der ganzen Überlegungen rund um moderne Organisationen und deren Entwicklung tauchen neben dem Begriff der Selbstorganisation auch viele andere ähnlich klingende Begriffe auf, die alle unterschiedliche Bedeutungen haben und die es Wert sind, etwas genauer zu betrachten und damit voneinander abzugrenzen um sich der Idee zu nähern, um was es bei den Rufen nach Selbstorganisation eigentlich geht. Geht es um Selbstführung, Selbststeuerung, Selbstmanagement, Selbstbestimmung oder gar Selbstverwirklichung?
- Selbstführung bezieht sich auf einzelne Menschen. Sie beschreibt die Fähigkeit, eigene Gedanken, Gefühle und damit auch das eigene Handeln durch bestimmte Grundhaltungen und Techniken zu beeinflussen und der eigenen Entfaltung ein gutes Umfeld zu bieten. Hierbei geht es um individuelle Fähigkeiten, die weiterentwickelt und geübt werden (können) und die auf den drei Komponenten Selbstbewusstsein, Selbstverantwortung und Selbstregulierung basiert.
- In der Psychologie versteht man unter Selbststeuerung die Fähigkeit eines Menschen, sich selbst und das eigene Verhalten beobachten zu können. Daraus entsteht die Möglichkeit, das eigene Verhalten zu bewerten, zu beeinflussen und einzelne Verhaltensweisen gezielt zu verstärken oder auch abzuschwächen. Selbststeuerung gibt Menschen die Möglichkeit, eigene Gefühle und Stimmungen zu beeinflussen und zu steuern.
- Selbstmanagement ist ähnlich der Selbststeuerung, beschreibt aber mehr die Fähigkeit, sich selbst realistische sinnvolle Ziele zu setzen und Aufgaben zu erkennen, die diesen Zielen priorisiert zugeordnet werden können. Letztendlich geht es im Selbstmanagement darum, ein Vorhaben definieren zu können und einen Plan zu haben, wie dieses Vorhaben zu erreichen ist.
- Selbstbestimmung beschreibt Fähigkeit und Recht, sowohl die eigenen Interessen und Vorlieben zum Ausdruck bringen zu können, als auch nach eigenen Entscheidungen zu handeln. Selbstbestimmung bedeutet selbst frei wählen zu können, wie man handelt, denkt und lebt und geht einher mit der Verantwortung für eigene Entscheidungen und Handlungen.
- In der Selbstverwirklichung geht es um die Entfaltung des eigenen Potenzials, der Verwirklichung individueller Wünsche und Ziele. Im Zuge der New Work Überlegungen beschreibt Frithjof Bergmann Selbstverwirklichung als das Ausrichten des eigenen Handelns am Erreichen persönlicher Wünsche und Ziele auch im Kontext von Arbeit.
Wie ist das also mit New Work?
Selbstorganisation findet bereits statt und muss weder eingeführt noch gefördert werden. Selbstführung, Selbststeuerung und Selbstmanagement beschreiben individuelle Fähigkeiten und Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung durch die Menschen sich selbst organisieren und letztendlich eigene Ziele erreichen können. Im besten Fall verfolgen die Menschen mit diesen ausgebildeten Fähigkeiten eigene Ziele im Interesse der Organisation.
Der Begriff Selbstverwirklichung geht weiter und ist nicht nur grundlegender, sondern wirkt aus dem Blickwinkel von heutigen Unternehmen widersprüchlich im Kontext von Arbeit in Organisationen. Im von Frithjof Bergmann vor 40 Jahren formulierte Gegenmodell zur heutigen Arbeitswelt steht der Mitarbeitende, seine Selbstständigkeit und Freiheit im Mittelpunkt der Betrachtung von Arbeit und Organisationen. Wenn, so Bergmann, zukünftig Maschinen bestimmte Arbeiten besser verrichten können als der Mensch, können und sollten Menschen mehr über den Sinn der (eigenen) Arbeit nachdenken. Arbeit solle Spaß machen und Menschen sollten das arbeiten, was sie wirklich, wirklich wollen.
Auf diese Form der Selbstverwirklichung von Menschen auch bei der Arbeit sind die heutigen effizienzgetriebenen Unternehmen überhaupt nicht vorbereitet. Organisationen verfolgen einen Zweck, der nicht passend sein muss zu den Bedürfnissen aus der Selbstverwirklichung einzelner Mitglieder der Organisation. Insofern können Unternehmen diesen Freiraum nur innerhalb der durch die Organisation gesetzten Rahmenbedingungen ermöglichen. Damit verkommt die New Work Idee zu Kickertischen, Obstkörben und in extremen Fällen der Einführung von Happyness-Managern, alles im Sinne einer Wohlfühlatmosphäre, die aber mit der eigentlichen New Work Idee nichts mehr zu tun hat.
Ein hohes Maß an Selbstbestimmung
In Unternehmen wird immer mehr Selbstorganisation gefordert, die tatsächlich systemtheoretisch betrachtet bereits stattfindet und in sich keine Lösung bietet, die über den Selbsterhalt des Systems hinaus geht. Und auch wenn New Work in vielen Unternehmen en vogue ist, wollen sie die damit einhergehende Selbstverwirklichung von Menschen nicht wirklich. Geht es dann um Selbstbestimmung?
Menschen haben ein hohes Maß an Selbstbestimmung, wenn sie selbst die Kontrolle über das eigene (Arbeits-)Leben haben, wenn sie unter verschiedenen akzeptablen Alternativen entscheiden können und die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer so weit wie möglich minimiert werden. Um das zu erreichen, müssen in Unternehmen bestehende Entscheidungsstrukturen so weit wie möglich dezentralisiert werden. Eine konsequente Abgabe und Übernahme von Verantwortung für Entscheidungen von einzelnen Personen oder zentralen Gremien hin zu dezentralen, möglichst flexibel agierenden kleinen Einheiten, ist mittlerweile ein immer häufiger formuliertes Ziel.
Gleichzeitig erlebe ich selbst in Unternehmen, die sich für Vertreter der New Work Bewegung halten und nicht müde werden, Agilität und Selbstorganisation einführen zu wollen, keine Konsequenz in der Umsetzung dieses Ziels. Tatsächlich wünschen sich viele dieser Unternehmen, die Verantwortung für Entscheidungen abgeben zu können, ohne aber die Kompetenz, Entscheidungen letztendlich zu treffen, abgeben zu wollen.
Denn diese Dezentralisierung hat eine Kehrseite, die sich Geschäftsführungen für ihre Unternehmen in der Regel nicht wünschen. Wird eine Dezentralisierung vollständig und konsequent durchgeführt, nehmen die Bindungskräfte des Organisationsrahmens immer weiter ab und die Organisation zerfällt unbewusst und ungeplant oder bewusst und geplant wie bei Haier in viele unabhängige Einheiten ohne wirklich bindenden Zusammenhang. Entsprechend bleiben aus Unternehmenssteuerungssicht relevante Themen häufig in zentraler Kontrolle, auch wenn das dem Wunsch nach Selbstbestimmung durch dezentralisierte Einheiten widerspricht. Ein Unternehmen wie die DB Systel geht im Vergleich zu Haier diesen weniger radikalen Weg und mischt eine Struktur möglichst unabhängiger Teams in zentralen Bündelungen von Einheiten und Clustern mit zusätzlichen zentralen Steuerungsgremien und Steuerungskreisen.
Die eine Antwort gibt es nicht
Betrachtet man Agilität als ein Set von Prinzipien, Praktiken und Tools für neue Formen einer guten Zusammenarbeit, Selbstorganisation als etwas, das ohnehin immer in Organisationen stattfindet und New Work als eine Idee möglichst großer Freiräume für dadurch bestenfalls motivierte Mitarbeitende, haben alle Konzepte wichtige Ideen für zukunftsfähige Organisationen. Gleichzeitig bieten weder Systemtheorie noch New Work noch Agilität als theoretische Konzepte alleinige Antworten. Wie so oft zitiert: Es gibt keine Blaupausen für gute Zusammenarbeit und auch nicht für zukunftsfähige Unternehmen.
Unternehmen, die heute agile Praktiken, Methoden und Prozesse einführen, die eine New Work Kultur für sich ausrufen oder ein hohes Maß an Selbstorganisation fördern und fordern geht es in der Regel darum, in den sich rasant ändernden Rahmenbedingungen erfolgreich zu bleiben. Abhängig davon, ob man mehr auf die Bedürfnisse der Menschen oder auf die Strukturen und Prozesse blickt, spielen die Ziele hinter systemtheoretischen Betrachtungen wie Selbstorganisation oder Agilität oder New Work (oder welchen Plastikbegriff man noch suchen und verwenden will) unterschiedlich gewichtet eine Rolle. Es war schon immer und bleibt weiterhin in Organisationen und deren Entwicklung die Kunst, eine Balance zu finden aus unterschiedlichen Zielen, Zwecken und Bedürfnissen, die abhängig von den jeweiligen Situationen sehr variieren können.
Um Mitglied einer Organisation sein und bleiben zu können, müssen sich selbstbestimmte Handlungen ihrer Mitglieder dauerhaft im Rahmen der Bestimmungen der Organisation bewegen, individuelle Selbstverwirklichungswünsche müssen im Einklang bleiben mit ihrem Zweck. So wird ein Mitarbeitender eines Teams selbstbestimmt entscheiden können, an keinen Terminen des eigenen Teams teilzunehmen, mit diesem Verhalten aber vermutlich dauerhaft Schwierigkeiten haben, weiter als Mitglied des Teams gesehen zu werden. Und wenn Teil der Selbstverwirklichung eine zweijährige Auszeit unter Palmen wäre, würde das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zum Zweck eines im gängigen Wirtschaftssystem operierenden Unternehmens passen, auch wenn das einen positiven Beitrag zur Motivation des Mitarbeitenden leisten würde.
Wichtig für den Erfolg von Unternehmen waren und sind gute Entscheidungen. In einer hoch vernetzten, transparenteren und sich zunehmend digitalisierenden Welt liegen in den vorherrschenden Entscheidungsstrukturen der Organisationen wichtige Hebel.
Häufig aufgesetzte Veränderungsprogramme verändern Strukturen und Prozesse mal in der Aufbau- und mal in der Ablauforganisation. Wenn sich dann trotz New Work Maßnahmen und agilen Transformationen weder bessere, noch schnellere Entscheidungen einstellen, wird der Ruf nach “mehr Selbstorganisation” laut und kaschiert dabei die fehlende konsequente Bereitschaft, Verantwortung für Entscheidungen tatsächlich anders zu verteilen und neu zu organisieren. Wenn beispielsweise wirtschaftliche Verantwortung dezentral in kleinere Einheiten gegeben wird, es aber bei einer zentralen Auslastungssteuerung bleibt, die für alle Einheiten einheitliche in bezahlte Aufträge verbuchte Stunden kontrolliert und einfordert, hilft weder der Ruf nach mehr Selbstorganisation, noch die Aufforderung, dezentral Entscheidungen zu treffen.
Es verbleibt trotz großer Veränderungsmaßnahmen häufig ein zu hohes Maß an Entscheidungskompetenz in zentraler Steuerung. Diese zentralen Vorgaben schränken die dezentralen Entscheidungsmöglichkeiten unterschiedlich stark ein. Ändern sich die zentralen Vorgaben nicht, wird auch nicht neu ausbalanciert zwischen Zentralität und Dezentralität und damit ändert sich auch nicht, wie häufig in welchen Entscheidungsstrukturen entweder gute oder schnelle oder im besten Fall gute und schnelle Entscheidungen getroffen werden.
Vielen Dank an Kai Pukall für die Anmerkungen und Impulse vorab zu diesem Blogbeitrag.
(Das Bild ist von Isabela Oliveira – vielen Dank!)
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