Mit Genuss und Freude habe ich den Artikel OKR: Eine kritische Betrachtung von Kai-Marian Pukall gelesen. Kai ist Agile Coach bei der DB Systel GmbH, ein Freund des Lean-Thinking und wendet daher das Prinzip “Eliminate Waste” auf alles an, was nach Business-Theater aussieht. Und vielleicht war es daher absehbar, dass er irgendwann auch auf die aktuelle Management-“Wunderwaffe” Objectives & Key Results zu sprechen kommt.
Drei fundamentale Schwächen von OKR
In seinem Artikel beschreibt Kai seine mehrjährigen Erfahrungen mit OKRs, die zu dieser kritischen Betrachtung geführt haben. In diesem Artikel steuere ich meine ergänzende Sicht bei. Gleich vorneweg: Mit vielen Aussagen von Kai bin ich sehr einverstanden, aber ausgerechnet bei seinen drei formulierten fundamentalen Schwächen, habe ich eine andere, vielleicht sogar grundlegend andere Sicht.
Kai schreibt:
Die Methode OKR hat nämlich, bei aller guten Intention und sicher auch gelegentlichem Nutzen, drei fundamentale Schwächen, die allein aus der Herangehensweise selbst entstehen und auch durch noch so gekonnte Einführung in einer Organisation nicht einfach aus der Welt geschafft werden können.
Zitat aus dem Artikel:OKR: eine kritische Betrachtung
Bevor ich auf die drei fundamentalen Schwächen eingehe habe ich eine Bitte: Lese dir zunächst den Beitrag von Kai durch, damit der Kontext zu meinen Ausführungen verständlich ist.
Die 3 fundamentalen Schwächen sind:
- Das Messbarkeits-Dilemma
- Ungewisse Zukunft
- Kaskadierende Ziele vs. die Natur von Organisationen
Das Messbarkeit-Dilemma
Die erste fundamentale Schwäche bezeichnet Kai als das “Messbarkeit-Dilemma”. Kurz gefasst geht es um die Frage, ob immaterielle Sachverhalte überhaupt gemessen oder bewertet werden können.
Hierzu schreibt Kai:
In der Regel ist das, worum es Organisationen “wirklich” geht – zum Beispiel Kundenzufriedenheit, Organisationskultur, Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Stabilität, gesellschaftlicher Nutzen – nicht messbar.
Zitat aus dem Artikel:OKR: eine kritische Betrachtung
Möglicherweise wirst du jetzt beim Lesen zustimmend nicken. Stimmt, wirst du vielleicht sagen, wie soll eine Organisationskultur gemessen werden? Wie soll ein gesellschaftlicher Nutzen messbar sein? Und selbst wenn es möglich sein sollte, wären die Aufwände zur Messung nicht unverhältnismäßig hoch?
Alles ist nicht nur relativ, sondern relativ gut messbar
Ich vertrete eine Gegenposition zum Thema Messbarkeit und behaupte sogar, dass alle von Kai-Marian genannten Beispiele nicht nur theoretisch messbar, sondern ganz praktisch messbar sind. Oft ist das sogar mit überraschend wenige Aufwand machbar.
Um meine Position zu verdeutlichen, beginne ich mit einem Zitat von Albert Einstein:
“Wenn Sie die Aussagen der Mathematik auf die Realität anwenden, dann sind diese mit Unsicherheiten behaftet, und sobald sie keine Unsicherheiten haben, dann haben diese keinen Bezug zur Realität”.
Albert Einstein (1879-1955)
Einstein spricht von Unsicherheiten als Basis der exakten Naturwissenschaften. Denn was viele nicht wissen: Der Erkenntnisgewinn der exakten Naturwissenschaft beruht einzig und allein auf der Reduktion von Unsicherheit. Dennoch bleiben alle jemals gewonnenen Erkenntnisse weiterhin unsicher und können durch neue Erkenntnisse jederzeit widerlegt werden.
Mythos: Messung nur durch exakte Zahlen
Es existiert der Mythos, dass das Messen die Quantifizierung von Dingen mit exakten Zahlen bedeutet. Irgendwelche Sachverhalte werden durch eine Zahl ausgedrückt und sind damit belastbar. Ein Beispiel dafür ist das Körpergewicht – in meinem Fall sind es 86,6 kg.
Der Glaube an exakte Messung ist allerdings eine unwissenschaftliche Sicht, denn schon die Messung des Körpergewichtes ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. Zum Beispiel ist es von erheblicher Bedeutung, ob ich mein Gewicht auf dem Mount Everest, in Köln oder auf dem Mond messe und ob ich die Messung mit einer medizinischen Waage, oder einer Küchenwaage durchführe.
Es ist sogar legitim, eine Messung mit einfachen qualitativen Werten oder sogar mit Ja/Nein Entscheidungen durchzuführen. Dazu ein populäres Beispiel: Die 5-Sterne Bewertung auf Amazon reduziert meine Unsicherheit, ob ich einen Gegenstand erwerbe oder nicht. Diese 5 Sterne sind kein exakter Messwert, sondern nur ein subjektiver Bereich, der sagt, dass 5 Sterne eben besser sind als 4. Übrigens, die in Scrum oft genutzte Schätzung in Story-Points fällt in die gleiche Kategorie der qualitativen Messwerte.
Definition der Messbarkeit
Mir hilft folgende Definition der Messbarkeit im Wirtschafts- und Arbeitsleben ungemein:
Messbarkeit ist eine quantitativ ausgedrückte Reduktion von Unsicherheit, die auf einer oder mehreren Beobachtungen basiert.
Unser Agieren während der Arbeit, die Ereignisse in der Wirtschaft und unser Leben im Allgemeinen, sind mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Die Reduktion von Unsicherheit ist für unternehmerische Entscheidungen ein hohes, wenn nicht sogar entscheidendes Gut. Wenn eine Entscheidungsfindung durch Messung, also selbst durch eine geringe Reduktion von Unsicherheit, verbessert werden kann, dann ist das eine sehr wertvolle Tätigkeit.
Betrachten wir “immaterielle” Dinge, wie beispielsweise die Organisationskultur. Die Kunst der Messung beginnt damit, das Objekt der Messung möglichst präzise zu definieren und den Grund der Messung gut zu kennen. Der Begriff “Organisationskultur” ist für eine Messung noch zu unpräzise, gleichzeitig aber ein wunderbarer Ausgangspunkt für die Klärung des wahren Messobjekts. Oft lässt sich aus dem Zweck der Messung auf das Messobjekt selbst schließen. Durch einfache Fragen, warum die Organisationskultur gemessen werden soll und was an der aktuellen Organisationskultur konkret beobachtet wird, entstehen die ersten Messpunkte. Beispielsweise die Anzahl von Interventionen von Führungskräften, die Fragen von Mitarbeitern bei der Betriebsversammlung, der Krankenstand, was auch immer.
Von Douglas W. Hubbard (entsprechende Buchempfehlung am Ende des Artikels) gibt es eine als “Klarifizierungskette” Methode, mit der schrittweise von einem immateriellen Sachverhalt auf dessen Messbarkeit geschlossen werden kann:
- Falls etwas Relevanz hat, dann ist es entweder erkennbar oder beobachtbar.
- Falls etwas erkennbar ist, dann ist es als Menge oder als Bereich von Mengen erkennbar.
- Falls ein Bereich oder eine Menge erkennbar ist, dann kann diese auch gemessen werden.
Ohne Messbarkeit keine OKR
Warum mir das Thema “Messbarkeit” so wichtig ist? Weil erst die Erarbeitung der Messwerte zur notwendigen Klarheit und Exaktheit in Sprache und Denken führt. Und zugleich wird durch Messung die Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung reduziert.
Da die Key-Results bei OKR diese Messbarkeit einfordern und unterstützen, sind OKR aus meiner Sicht ein sehr hilfreiches Instrument in der Organisationsentwicklung, das ich datengetriebene Entscheidungsunterstützung nennen möchte.
Ungewisse Zukunft oder: der Kontext zählt
Objectives & Key Results gehören, wie Kai schreibt, in der Organisationslehre zu der Kategorie der Zweckprogramme. Zweckprogramme geben im Unterschied zu Konditionalprogrammen nicht die exakte Vorgehensweise vor, sondern lassen diese offen. Die Form der Umsetzung verbleibt bei den ausführenden Menschen. Zu den Zweckprogrammen gehören neben den OKR auch das Management by Objectives & Self Control (MbO) sowie einige agile Arbeitsformen, wie beispielsweise Scrum.
Wichtig ist eines: Zweckprogramme sind für bestimmte Problemkategorien geeignet und für andere nicht. Darauf komme ich noch zu sprechen.
Als Beispiel für die Ungewissheit der Zukunft und das Versagen von OKR in dieser Frage, benennt Kai die zum Zeitpunkt dieses Artikels bestehende Corona-Krise. Seine Meinung teile ich, wenn er sagt, dass diese weltweite Pandemie und die damit einhergehende Rezession in kaum einer Wirtschaftsplanung berücksichtigt war.
Eine Pandemie ist genau so wenig planbar, wie der Einschlag eines Meteoriten oder die Begegnung mit einem Vertreter der dritten Art. Daher halte ich es für sinnvoll, das System OKR in den Kontext einzuordnen, in dem das Zielsystem eine sinnvolle Wirkung entfalten kann.
Das Cynefin-Framework von Dave Snowden gruppiert Problembereiche in 5 Kategorien: Unbekannt, Simpel, Kompliziert, Komplex und Chaotisch. Komplexität zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass für den Beobachter keine eindeutigen Ursache-Wirkungsbeziehungen mehr zu bestehen scheinen. (Es ist oft eine Frage des Standpunkts und auch der Erfahrung, ob Dinge wirklich komplex sind)
OKR bewegt sich als Zielsystem in dem Bereich zwischen Komplex und Kompliziert. Das ist auch der Bereich, in dem agile Methoden wie Scrum gut funktionieren. Dabei gilt, je stärker die Methode OKR in einem komplexen Umfeld eingesetzt werden, umso besser ist es, die einzelnen OKRs als Experimente zu formulieren und zu prüfen, an welchen Messgrößen (siehe oben, Reduktion der Unsicherheit) der Erfolg bewertet werden kann.
Bewegen wir uns immer mehr auf den Bereich des Chaos zu, dann haben wir keine bekannten Orientierungsgrößen mehr. Das ist leider gegenwärtig die Situation in stark von Corona betroffenen Branchen. Eine Möglichkeit, mit dem Chaos der Corona-Krise umzugehen, ist die Zielinventur, bei der geprüft wird, ob bestimmte Ziele wirklich aufgegeben werden müssen.
Übrigens, es gibt Unternehmer, die gerade jetzt in der Krise so richtig durchstarten, weil sie sagen, wenn die Kanonen der Unsicherheit donnern, dann kann ich meine Ziele umso nachhaltiger verfolgen. Einer dieser Unternehmer heißt Elon Musk.
Kaskadierende Ziele und die Natur der Organisationen
Die schärfste Kritik übt Kai an der Kaskadierung von Zielen, die er beim Einsatz von OKR erleben musste.
Dazu benennt Kai ein schönes Zitat von Prof. Dr. Stefan Kühl:
„Es herrscht jedenfalls in der Organisationsforschung inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass ein Organisationsalltag, in dem das Unternehmensziel durch harmonische Umsetzung der vom gemeinsamen Oberzweck abgeleiteten Unterzwecke erreicht wird, eine reine Fantasievorstellung des Topmanagements ist.“
“Strategien entwickeln” von Stefan Kühl © 2016 Springer Verlag
Doch ist die Zielkaskade wirklich ein Problem? Ich sage nein, weil diese bei OKR gar nicht vorkommt (oder nicht vorkommen sollte).
OKR: Ziel-Attraktoren statt Zielkaskaden
Ähnlich wie ein Magnet die Eisenspäne ausrichtet, sollen Unternehmens-OKR die Ziele der Beteiligten im Unternehmen ausrichten. Aber nicht nur in eine Richtung, sondern in 360°.
Die Ausrichtung erfolgt also in alle Richtungen, nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben und ganz wichtig, auch horizontal von rechts nach links. Damit das möglich wird, ist ein möglichst hoher Freiheitsgrad in der Zielbildung der einzelnen Teams erforderlich. Ich bin sogar der Meinung, dass der im OKR-Framework vorgesehene Prozessschritt des “Alignment” pragmatisch und mit hohen Freiheitsgraden angegangen werden sollte.
Nutzt OKRs für das eine große Ding
Es gibt einen Punkt, der mir sehr wichtig ist und der sich wie ein roter Faden durch viele Beschreibungen von OKR-Umsetzungen zieht. Er wird auch in Kais Artikel benannt: OKR dienen im Organisationskontext nicht dazu, das gesamte Geschäft eines Unternehmens abzubilden. OKR dienen ausschließlich der fokussierten Verbesserung, Veränderung oder Validierung. Oft lese ich, dass zwischen zwei und fünf OKR empfohlen werden. Das halte ich persönlich für falsch. Stattdessen empfehle ich die Reduktion der OKR auf das eine Ding, also das eine große Ziel. Alles andere ist BAU, also “Business as Usual” oder Tagesgeschäft und darf gerne wie gewohnt mit KPI gemessen werden. Wenn auf der obersten Ebene in einem Konzern alle 3 Monate fünf neue OKR publiziert würden, dann entsteht eine nicht beherrschbare Zielinflation und die Verursacher verantworten Defokussierung und Beliebigkeit.
Das eine Ding, die eine große Sache, die darf gerne auch über mehr als drei Monate stabil bleiben. Nicht umsonst hat beispielsweise das große Vorbild in Sachen OKR-Nutzung, die Firma Google, die Quartale abgeschafft und arbeitet mit fokussierten und selbstorganisierten Jahreszielen in den Bereichen.
OKR: Eine ergänzende Betrachtung
“Context matters”, das ist meine abschließende ergänzende Betrachtung. Das mit OKR zu lösende Problem muss ebenso bekannt sein, wie eine Einschätzung der Komplexität der Situation. Ab eines gewissen Grades an Komplexität sind OKR nicht mehr sinnvoll einsetzbar und bei klaren oder regelbaren Sachverhalten braucht es keine OKR.
Die Frage der Messbarkeit ist der aus meiner Sicht entscheidende Punkt. Hier sehe ich ein enormes Potenzial für die Verbesserung der Entscheidungsfindung in Unternehmen. Messbarkeit bedeutet, dass Unsicherheiten reduziert werden. Ich plädiere sehr klar für die Reduktion von Unsicherheit in der Entscheidungsfindung und empfehle genau aus diesem Grunde, den OKR eine sehr wertschätzende Chance zu geben.
Passende Buchempfehlung:
How to Measure Anything: Finding the Value of Intangibles in Business
(Das Bild ist von Isaac Smith – vielen Dank!)
Hinweise:
Ich habe die Cynefin-Grafik nach einem Hinweis von Markus Koehne korrigiert. Es heißt “Neuartige Praxis” und nicht “Unbekannte Praxis” Danke für den Hinweis, Markus!