Dieser Artikel lehnt sich an Daniels Beitrag “Ich bin lieber nicht verantwortlich” vom 24. Juli 2023 an.
In letzter Zeit begegnet mir eine Frage auffallend oft: Warum übernehmen unsere Teams und Mitarbeitenden keine Verantwortung? Regelmäßig schwingt dabei ein anklagender Unterton mit, ebenso wie die Implikation, dass die Ursachen irgendwie in Psychologie oder Persönlichkeiten der beteiligten Menschen zu suchen wären. Sie müssten (in der Sicht des Sprechers) eigentlich Verantwortung übernehmen, wollen aber offenbar nicht, deswegen wären sie wohl auf irgendeine Art “defekt”.
Konkret wird eine Reihe von Verhaltensweisen bemängelt, angefangen bei allgemeinem Desinteresse, über das Nichteinschalten von Kameras in Videocalls, Unzuverlässigkeit, schlechte Vorbereitung, Abwesenheit in Meetings bis zum Ignorieren von Prioritäten oder Lieferterminen. All das kann man sicher zu Recht kritisieren. Wenn es aber regelmäßig und damit als Muster auftritt, wird es Zeit, genauer hinzusehen.
Natürlich ist es in Einzelfällen möglich, dass Menschen aus persönlichen Gründen Verantwortung nicht übernehmen können oder wollen. Spätestens aber, wenn sich das Phänomen über ganze Teams und Bereiche erstreckt, wird offensichtlich, dass es hier nicht um persönliche, sondern strukturelle Faktoren gehen muss. Dann wird es Zeit, die Frage wirklich ernst zu nehmen: Wie kann es sein, dass Menschen im von uns geschaffenen Umfeld so ungern Verantwortung übernehmen?
Wie ich Verantwortung verstehe
Daniel stellt in seinem Beitrag die Frage, was Verantwortung eigentlich ist, und kommt zu der Erkenntnis, dass man streng genommen nur für sein eigenes Handeln verantwortlich sein kann (und selbst das nicht immer). Wenn wir Verantwortung als Urheberschaft einer kausalen Wirkungskette betrachten, ist das natürlich richtig – nicht der Stein ist für eine zerbrochene Scheibe verantwortlich, sondern der, der ihn wirft, denn der Stein hatte, anders als sein Werfer, keine Wahl. Gesellschaftlich legen wir Verantwortung aber oft weiter aus. Es ist völlig normal, für Themen verantwortlich zu sein, die man nur eingeschränkt unter Kontrolle hat, ob es dabei um zukünftige Ereignisse, undurchschaubare Wirkmechanismen oder das Handeln von anderen Menschen geht.
Verantwortung über das “Sicherstellen” von irgendetwas zu definieren, wie es manchmal getan wird, ist ziemlicher Unsinn. In einem sozialen System kann man das Verhalten anderer nicht “sicherstellen”. Nützlicher finde ich eine Definition von Verantwortung, die mir bei Niklas Luhmann begegnet ist: Verantwortung übernehmen bedeutet, das einem selbst entgegen gebrachte Vertrauen zu nutzen, um eine brüchige Entscheidung zu decken (“Schriften zur Organisation 1”, S.48).
Verantwortung braucht es also, weil die Zukunft ungewiss, das Verhalten anderer unkontrollierbar und unser eigenes Handeln risikobehaftet ist. Wer Verantwortung übernimmt, verspricht seinem Umfeld, sich um das Herbeiführen, Bewahren oder Abwenden bestimmter Zustände zu kümmern und dabei auftretende Probleme eigeninitiativ zu lösen. Das hat für beide Seiten Vorteile: Verantwortliche Menschen erhalten größere Handlungsspielräume, während der Rest die “brüchige Entscheidung” wie eine Tatsache behandeln kann und dadurch Sicherheit gewinnt. Die Übernahme von Verantwortung ist eine soziale Vereinbarung, der beide Seiten zustimmen müssen, und etwas ganz anderes, als Menschen für etwas verantwortlich zu machen! Durch einseitiges verantwortlich-machen kommt kein Vertrauen ins Spiel und es wird auch keine Unsicherheit reduziert, da ungewiss bleibt, ob die andere Partei sich tatsächlich kümmern wird.
Daniel schreibt in seinem Beitrag treffend, dass Verantwortung und Entscheidung nicht voneinander zu trennen sind. So kann beispielsweise eine Führungskraft, die einem Kunden die Einhaltung eines bestimmten Zieltermins verspricht, die Verantwortung für diese Entscheidung nicht einfach an ein Team übertragen. Schon die Übernahme von Verantwortung an sich muss, damit sie Bedeutung entfalten kann, eine freie Entscheidung sein. Verantwortungsübernahme ist damit ein inhärent freiwilliger Akt und untrennbar mit Gestaltungsmöglichkeiten verbunden. Wir kommen auf diesen Gedanken später wieder zurück.
Man kann andere nicht zwingen, Verantwortung zu übernehmen, da man sie nicht zu Entscheidungen zwingen kann. Verantwortung findet also freiwillig statt.
Timm Richter, Torsten Groth
All das beantwortet noch nicht die Frage, unter welchen Umständen Menschen und Teams Verantwortung übernehmen und wie man diese Verantwortungsübernahme strukturell fördern kann. Wenn ich mit Teams arbeite, bei denen über einen “Mangel an Verantwortung” geklagt wird, stoße ich in den meisten Fällen auf eine Kombination von vier Faktoren:
- Erwartungen sind unklar oder instabil
- Relevanz ist nicht spürbar
- Die Macht freier Entscheidungen wird nicht genutzt
- Es fehlen Mitgestaltungsmöglichkeiten
1) Erwartungen sind unklar oder instabil
Wir haben gesehen, dass Verantwortungsübernahme eine gegenseitige Vereinbarung auf Basis transparenter Erwartungen darstellt. Um es mal vorsichtig zu formulieren: Klare Absprachen zwischen gleichwertigen Partnern sind mir in Organisationsbereichen, in denen über Verantwortungslosigkeit geklagt wird, eher selten begegnet. Häufiger begegnen mir Erwartungen der Form “Wir wollen, dass die Teams agiler arbeiten und produktiver werden!” Was das konkret bedeutet, ist unklar, wurde mit den Teams nie besprochen und/oder hat deren Zustimmung nie erhalten. Versteht die andere Partei wirklich, was von ihr erwartet wird? Versteht man es selbst? Ist es klar und präzise formulierbar? Stimmt die andere Partei aus freien Stücken zu?
Wer Verantwortung übertragen möchte, darf an dieser Stelle keinen Druck ausüben. Wo ein Nein nicht akzeptiert wird, hat ein Ja nicht viel Aussagekraft. Verantwortung wandert dorthin, wo Entscheidungen getroffen werden, und die Entscheidung “Ja, wir kümmern uns” kann erhebliche Verantwortung übernehmen – aber nur, wenn sie aus freien Stücken getroffen wird. Die Kombination aus unklaren Verantwortungsbereichen und hohen Erwartungen kann zu einer Situation “unsichtbarer Stromzäune” führen – das ist ein Umfeld, in dem Menschen zu scheinbar willkürlichen Zeitpunkten, ohne erkennbares Muster, für ihr Handeln kritisiert oder bestraft werden, weil sie Erwartungen verletzt haben, die sie nicht verstehen. Es ist eine zutiefst demotivierende Erfahrung und eine der schnellsten und wirksamsten Arten, Menschen Verantwortungsübernahme nachhaltig abzugewöhnen.
Insgesamt wundere ich mich, wie oft in Organisationen Verantwortung einfach in Form eines diffusen Erwartungsknäuels “delegiert” wird. “Das Team soll von nun an die Entscheidungen treffen” ist ein Satz, der mich hellhörig werden lässt. Welche Entscheidungen – inhaltlich? Organisatorisch? Darf das Team auch eigenmächtig Personen einstellen, das Budget aufstocken, Stakeholder überstimmen, den Rahmen der allgemeinen Firmenstrategie verlassen? Vermutlich nicht, aber wo verläuft die Grenze? Haben die Beteiligten hier ein gemeinsames Verständnis? In vielen Fällen hat das Team überhaupt keinen Überblick, was es nun entscheiden darf und was nicht, und wird zur eigenen Sicherheit eher konservativ auftreten, sprich: Verantwortung ablehnen oder Entscheidungen von seinen Führungskräften einfordern.
Anwendungstipp:
- Organisiert zwischen Teams und Stakeholdern einen Dialog darüber, wer was entscheiden darf (und will!) und was nicht, und wie man sich die Verantwortung gemeinsam teilen kann. Ihr könnt den von uns bei Chili and Change entwickelten Shared Leadership Compass (frei verfügbar unter CC-Lizenz) verwenden, um diesen Dialog zu unterstützen.
2) Relevanz ist nicht spürbar
Die Erwartungen an einen selbst zu verstehen, ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Übernahme von Verantwortung. Da es sich bei Verantwortungsübernahme um eine freie Entscheidung handelt, kommen zwangsläufig Fragen der Motivation und damit der individuellen Relevanz des Themas ins Spiel. Warum ist das wichtig? Muss es wirklich jetzt passieren? Wer hat etwas davon, dass ich das tue? Ist das Thema bei mir richtig aufgehoben, bin ich die am besten geeignete Person?
It is impossible to articulate team purposes that energize, orient, and engage members for work that is essentially trivial.
Richard Hackman
Was Arbeit motivierend wirken lässt, ist gut erforscht und seit Jahrzehnten, vermutlich sogar Jahrhunderten, mehr oder weniger gleichbleibend: spürbare Wirksamkeit, akute Dringlichkeit, Abwechslung, hoher fachlicher/technischer Anspruch, weitreichende Gestaltungsspielräume. Aufgaben mit diesen Eigenschaften ziehen fast schon von allein Freiwillige an, wohingegen es für unscharfe, monotone, unsinnige oder langweilige Arbeit schwierig sein kann, Verantwortliche zu finden.
A demanding performance challenge tends to create a team. The hunger for performance is far more important to team success than team-building exercises, special incentives, or team leaders with ideal profiles. In fact, teams often form around such challenges without any help or support from management.
Douglas Smith, Jon Katzenbach
Das klingt offensichtlich, und doch begegnet mir regelmäßig Enttäuschung, wenn Teams beispielsweise keine Begeisterung für die Einführung von Scrum aufbringen. Mal aus der Sicht von jemand gesprochen, der jahrelang Weiterbildungen zu Scrum angeboten hat: Meine Teams sollen sich nicht für Scrum begeistern, sondern für ihre eigentliche Arbeit. Entscheidend ist der Mehrwert für Kunden, Scrum ist dabei höchstens ein Hilfsmittel. Wenn Teammitglieder an Metriken, OKRs, Schätzmethoden oder dem Formulieren von User Stories wenig Interesse haben, ist das kein Problem, sondern im besten Fall Ausdruck von gesundem Wertschöpfungsfokus. Motivation ist sowieso individuell, und wenn Menschen aus Freude an der Tätigkeit an sich, oder auch einfach nur des Gelds wegen gute Arbeit machen, muss das auch in Ordnung sein. Manchmal habe ich etwas Mitleid mit frischgebackenen Scrum Mastern, denen gerade noch in einer “Agile”-Werbeveranstaltung massive Steigerungen der Teamleistung und Motivation versprochen wurden, und deren hohe Erwartungen dann vom pragmatischen Teamalltag enttäuscht werden. Dafür kann ihr Team aber nichts.
Anwendungstipps:
- Achtet darauf, dass eure Teammitglieder wichtige und anspruchsvolle Aufgaben übernehmen, die sie heraus- aber nicht überfordern, und dass ihnen Spielraum für kreative und eigenständige Lösungen zur Verfügung steht. Auch bei Anwendung des Pull-Prinzips darf man sich füreinander verantwortlich fühlen und Arbeit im Dialog untereinander aufteilen.
- Arbeitet auf konsequenten Wirksamkeitsfokus hin. Je spürbarer das Handeln des Teams einen Unterschied macht, desto größer wird allgemein die Bereitschaft der Teammitglieder sein, sich auch in weniger attraktive Aufgaben zu engagieren. Maximiert dazu den Teil des Arbeitstags, in dem echte, essenziell wichtige Arbeit getan wird, und hinterfragt kritisch, wenn etwas in diese Wertschöpfungszeit hineinschneiden soll – vor allem, wenn es Meetings oder administrative Prozesse sind. Reduziert euer Backlog auf maximal 20-30 Punkte – die wichtigen Ideen kommen wieder, der Rest wird vermutlich eh nie stattfinden. Das sind nicht meine eigenen verrückten Ideen, sondern Grundprinzipien von Unternehmen wie Basecamp, aktuell sicher eine der agilsten Firmen am Markt.
- Reduziert Bürokratie, fördert direkten Kundenkontakt. Aufgabentickets, die von einem Analysten spezifiziert, von einer Product Ownerin umdefiniert, mit einer Definition of Ready abgeglichen und über einen formalen Jira-Workflow zugewiesen worden sind, werden sich niemals so relevant anfühlen wie ein Mensch, der einem gegenübersitzt und unter einem Problem leidet. Viele Organisationen stecken erhebliche Aufwände in das Bestreben, möglichst wenig miteinander sprechen zu müssen, und errichten prozedurale Brandmauern zwischen Anforderern und Umsetzern, getrieben vom Wunsch nach mehr Effizienz. Leider opfern sie dabei für das Team spürbare Relevanz. Je unmittelbarer der Bedarf und je intensiver die Beziehungen zwischen Stakeholdern und Teammitgliedern, desto bereitwilliger werden beide Seiten Verantwortung übernehmen.
3) Die Kraft freier Entscheidungen wird nicht genutzt
Ein weiterhin unterschätztes Werkzeug im Organisationskontext ist der gezielte Einsatz von Freiwilligkeit. Damit ist nicht Unverbindlichkeit oder Beliebigkeit gemeint – in einem Team mitzuarbeiten darf gerne eine anspruchsvolle und pflichtbewusste Tätigkeit sein. Gerade deshalb ist es wichtig, dass Teammitgliedschaft und die Übernahme von Rollen und Aufgaben durch ein bewusstes und ausdrückliches Ja von beiden Seiten zustande kommen. Wer aus eigenem Antrieb dabei ist, engagiert sich, leistet seinen Beitrag zum gemeinsamen Erfolg und verhält sich den anderen Beteiligten gegenüber konstruktiv und lösungsorientiert, schließlich wollte man selbst dabei sein und möchte auch dabei bleiben. Das bedeutet auch, ein mögliches Nein zu akzeptieren. Ich selbst arbeite lieber im Team mit fünf motivierten Menschen, als mit zehn, denen alles egal ist. Freiwillige Mitgliedschaft funktioniert natürlich nur, wenn man es gleichzeitig schafft, das Team zu einem attraktiven Arbeitsplatz zu machen, durch spannende Aufgaben, produktive Arbeitsorganisation, hohe Wirksamkeit, soziales Ansehen oder attraktives Gehalt.
Wer Freiwilligkeit im Team als Ansatz etabliert, erhält plötzlich einen großen Hebel zur kreativen Strukturgestaltung. In einigen Teams haben wir beispielsweise die Teilnahme an allen internen Meetings freiwillig gemacht – Austauschtermine, Refinements, Dailys, Sprintwechsel, Retrospektiven, alle – mit der Aussage “Ihr könnt selbst am besten einschätzen, wo und wann ihr dabei sein solltet“. Ich habe selten so fokussierte und engagierte Meetings wie in diesen Teams erlebt, und Teammitglieder waren weiterhin in den Terminen anwesend, in denen sie etwas beitragen konnten. Wer noch nie die Energie und den Fokus eines Termins erlebt hat, an dem alle Beteiligten von sich aus teilnehmen wollten, versteht eventuell nicht, was der Unterschied ist, wenn am Ende doch die meisten da sind. Ich kann nur empfehlen, es mal auszuprobieren.
Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass niemand kommt. Wer dieses Risiko aushalten kann, bekommt hervorragende direkte Rückmeldungen darüber, wie wertvoll die eigenen Termine sind, und kann sich die oft lauwarme Feedbackrunde gegen Ende sparen: Wenn Menschen wiederkommen, ist ihr Return on Time Invested offensichtlich positiv. Wenn nicht, ist es Zeit, den Termin zu überdenken.
Anwendungstipps:
- Anstatt Menschen auf Projekte oder Teams zu “staffen”, lasst sie mitentscheiden, in welche Themen sie sich einbringen wollen. Allein die Tatsache, dass man sich ein Thema selbst ausgesucht hat, hat spürbare Effekte bei Engagement und Verantwortungsübernahme.
- Sorgt dafür, dass Teammitgliedschaft durch Freiwilligkeit von beiden Seiten zustande kommt, auf der einen Seite etwa, indem man sich auch intern auf Teams bewirbt, auf der anderen mit Ansätzen wie Peer Recruiting. Es ist schwierig, Verantwortung für das Handeln seiner Teammitglieder zu übernehmen, wenn man über deren Mitarbeit nie mitentscheiden durfte.
- Nutzt das Pull-Prinzip für Aufgaben, anstatt Tätigkeiten zuzuweisen. Aufgaben, die man selbst übernehmen will, werden schneller, besser und motivierter erledigt als Aufgaben, die man zugewiesen bekommt. Natürlich darf Mitarbeit weiterhin angefragt werden (“Kannst du das übernehmen?” “Ja, ich mache das.“). Eventuell findet nicht jede Aufgabe sofort bereitwillige Abnehmer, aber das ist das Wunder der Motivation: Durch die gelegentliche Übernahme unattraktiver Arbeit erwirbt man das Recht, auch die spannenden Aufgaben machen zu dürfen. Jeder übernimmt reihum auch mal ungeliebte Tätigkeiten, dann funktioniert das.
- Freiwilligkeit funktioniert vor allem für Meetings hervorragend. Sehr gute Erfahrungen habe ich mit dem Ansatz gemacht, alle teaminternen Meetings offen, freiwillig und verbindlich zu halten. Jeder entscheidet selbst, in welchen Terminen er/sie/* dabei ist, darf Meetings mittendrin wieder verlassen, aber die, die anwesend sind, handeln und entscheiden dann im Namen des gesamten Teams. So wird die Entscheidungsfindung nicht behindert, und es ist in der Verantwortung jedes Einzelnen, sich in die richtigen und wichtigen Themen selbst einzubringen oder die Entscheidungen der Anderen hinterher mitzutragen.
Wer Engagement in Teams und Belegschaften fördern will, sollte, wo immer möglich, die Artikulation von Führungsansprüchen zurückdrängen und Elemente der Führungsermächtigung installieren und stärken.
Randolf Jessl, Thomas Wilhelm
4) Es fehlen Mitgestaltungsmöglichkeiten
Daniel schreibt in seinem Artikel: “Wer die Entscheidung trifft, trägt die Verantwortung und umgekehrt, wer die Verantwortung übernimmt oder übertragen bekommt, muss letztendlich auch die Entscheidungen treffen (können).” Er berührt damit einen wesentlichen Grundsatz der Organisationsforschung, das sogenannte Kongruenzprinzip. Dieses besagt im Kern, dass Aufgaben, Verantwortung, Entscheidungsbefugnisse und Informationen zusammengehören und ihre unbalancierte Verteilung in der Regel negative Folgen hat. Wer eine Aufgabe erledigen soll und will, muss dazu wesentliche Entscheidungen treffen können, braucht dafür nötige Informationen und verantwortet letztendlich die Konsequenzen des eigenen Handelns.
Dieses theoretisch einleuchtende Prinzip gerät in der Organisationspraxis leider oft in Schieflage. Verantwortung liegt nicht dort, wo Entscheidungen getroffen werden, Aufgaben werden ohne die nötigen Informationen verteilt oder Steuerungsgremien eingerichtet, die weit weg vom eigentlichen Geschehen entscheiden und verantworten sollen.
Für unsere Überlegungen hier bedeutet das, dass Menschen und Teams nur für Themen Verantwortung übernehmen können, die von ihnen zumindest mitgestaltet werden. Wenn das Team bestimmte Ergebnisse verantworten soll, muss es diese mitentscheiden können. Wenn es Termine und Zeitpläne verantworten soll, muss es diese mitentscheiden können. Wenn es seine Prozesse und Arbeitsweisen verantworten soll, muss es diese mitentscheiden können. Ohne entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten ist es keine Verantwortungsübernahme, sondern Verantwortlichmachung.
Anwendungstipp:
- Ein Team muss die Möglichkeit haben, seine eigene Arbeitsmenge und Arbeitsweise auf seine Bedarfe passend zu gestalten. Das klingt offensichtlich, aber ein Team, welches mit fremdgesteuerten Prozessen in fremdgesteuerten Sprints fremdgesteuerte Aufgaben auf ein fremdgesteuerte Zieltermine hin bearbeitet, wird vermutlich nie wesentliche Verantwortung übernehmen. Wie auch, wenn alle relevanten Entscheidungen woanders gefällt werden? Wer keinen Einfluss auf das Geschehen hat, kann keine Verantwortung übernehmen. Wer sich motivierte und verantwortungsbewusste Teams wünscht, sollte ihnen die Gestaltung ihrer internen Abläufe und externen Nahtstellen überlassen, klare Erwartungen an Arbeitsweise und Ergebnisse vereinbaren, ihnen Einfluss auf Strukturen der umgebenden Organisation anbieten und bei Bedarf mit Unterstützung zur Seite stehen.
Engagement ist der Applaus der Mitarbeitenden.
frei nach Götz Werner
Zusammenfassung
Verantwortungslosigkeit wird in vielen Organisationen beklagt. In der Regel wird das als Persönlichkeitszug oder Charakterfehler der Teammitglieder ausgelegt: Unsere Mitarbeiter sind verantwortungslos, wir müssen ihnen verantwortungsbewusstes Verhalten beibringen. Verhalten kann aber nur entweder individuell-psychologisch oder weit verbreitet sein, nicht beides. Wenn Verantwortungsvermeidung bei vielen Menschen gleichzeitig (oder immer wieder nacheinander in ähnlichen Situationen!) zu beobachten ist, hat sie strukturelle, nicht individuelle Gründe.
Vier dieser Gründe sind in meiner Erfahrung: Es fehlt an klaren Erwartungen und Vereinbarungen dazu, was das Team leisten kann und was es gestalten darf und will. Aufgaben und Ziele lassen Relevanz, Anspruch und Dringlichkeit vermissen, stattdessen ist der Arbeitstag mit Bürokratie, Administration oder unwichtigen Aufgaben gefüllt. Sinn und Wirksamkeit freiwilliger Entscheidungen werden übersehen oder nicht gezielt genutzt. Und: Teams sollen Themen verantworten, die anderswo entschieden werden oder schon lange vor einer möglichen Einflussnahme feststehen.
Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen, und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.
Fünftes agiles Prinzip
Wer kompetente Fachleute mit spannenden Aufgaben zusammenbringt, einfache, aber klare Erwartungen an sie richtet, ihre interne Selbstorganisation respektiert und ihre Leistung anhand ihrer Ergebnisse bewertet, braucht sich, meiner Erfahrung nach, um Motivation und Verantwortungsbewusstsein selten Sorgen zu machen. Dieser Zustand entsteht nicht von allein, ihn herzustellen verlangt handfeste Organisationsentwicklung und bewusstes, aktives Handeln aller Beteiligten. Vor allem aber setzt er voraus, dass wir ausufernde Verantwortungslosigkeit als Symptom struktureller Schwächen der Organisation erkennen, nicht als Charakterfehler der in ihr wirkenden Menschen. Wer in einer Organisation nichts als Menschen sieht, der kann auch nur Menschen bearbeiten. Es gibt bessere Wege.
(Das Titelbild ist mit Hilfe von Midjourney AI erstellt)
Kai-Marian Pukall arbeitet seit über zwölf Jahren mit agilen und selbstorganisierten Teams. Mehrere Jahre lang begleitete er als Agile Coach bei DB Systel eine der größten agilen Transformationen im deutschsprachigen Raum, als Seniorberater hat er zuletzt für Chili and Change Organisationen zu Veränderung, Teamentwicklung und Agilität beraten. Aktuell ist er in der Organisationsentwicklung der Seibert Group, einem kollegial geführten, agilen Softwareunternehmen tätig. Sein Buch “Selbstorganisation im Team” ist im Juni 2023 bei Vahlen erschienen.