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Warum weniger Hierarchie mehr Führung bedeutet

In vielen Organisationen wird Führung oft mit Hierarchie gleichgesetzt. Das gängige Bild: Führungskräfte stehen an der Spitze einer Hierarchiepyramide, treffen Entscheidungen und tragen Verantwortung. Doch gerade in dynamischen und krisenhaften Situationen zeigt sich, dass dieser Zusammenhang nicht immer greift.

In diesen gedanklichen Zusammenhängen wird dann das Übel aktueller Herausforderungen in Unternehmen in „zu viel Hierarchie“ und „schlechten Führungskräften“ gesehen. Beides in einen Topf geworfen ist der schnelle Schluss: Wir brauchen weniger Hierarchie und weniger Führung. Wir geben alles in die Teams, die aktuelle Probleme am besten direkt selbst(organisiert) lösen. Und ja: Weniger Hierarchie verändert etwas. Sie bedeutet aber nicht weniger Führung. Reduktion von Hierarchien führt dazu, dass es mehr Raum für Führung gibt und dass sie auf jeder Ebene umso notwendiger wird. Klingt komisch, ist aber so. Also: Was ist eigentlich Hierarchie, was ist Führung und wie hängen sie zusammen?

Hierarchie: Stütze bestehender Ordnung

Die klare Funktion von Hierarchien ist das Schaffen von Sicherheit und Stabilität. In einer hierarchischen Struktur gibt es festgelegte Rollen mit klaren Verantwortlichkeiten. Das hilft bei der Delegation von Aufgaben, dem Kontrollieren von Prozessen und der Umsetzung klarer Regeln. Vereinfacht könnte man sagen: Solange alles nach Plan läuft, sind Hierarchien effizient und sorgen für Ordnung.

Wie immer hat alles auch seine Kehrseite. Hierarchien funktionieren besonders gut, wenn alles glatt läuft, wenn die Routine den Alltag bestimmt und keine unerwarteten Herausforderungen auftreten. In diesen Situationen kann sich die Organisation auf bestehende Regeln und formelle Entscheidungswege verlassen. Doch sobald es zu Krisen oder Konflikten kommt, geraten Hierarchien oft an ihre Grenzen.

Hierarchien sind Multitalente:

  • Vereinfachung der Struktur: Hierarchien teilen große Organisationen in kleinere, überschaubare Abteilungen auf. Ein Unternehmen gliedert sich beispielsweise in Vertrieb, Produktion und Verwaltung, jede mit eigenem Leiter. Oder es gibt viele interdisziplinäre Teams, die sich in größeren Einheiten zusammenfinden.
  • Geordneter Informationsfluss: Hierarchien regeln, wie Informationen weitergegeben werden. Üblicherweise berichten Mitarbeitende ihre Teamleiterinnen, diese an Abteilungsleiterinnen, und so weiter.
  • Selbsterhaltung der Organisation: Hierarchien helfen Unternehmen, sich an Veränderungen anzupassen und weiterzuentwickeln. Ja, wirklich. Zum Beispiel kann die Führung eines Unternehmens bei Marktveränderungen vergleichsweise schnell neue Abteilungen gründen oder bestehende umstrukturieren.
  • Klare Abgrenzungen: Hierarchien definieren Zuständigkeiten, sowohl innerhalb des Unternehmens als auch nach außen. Die Verkaufsabteilung weiß genau, welche Kunden sie betreut und arbeitet nicht der Marketingabteilung in die Quere.
  • Effiziente Entscheidungsfindung: Was häufig an Hierarchien kritisiert wird, ist unter planbaren Rahmenbedingungen eigentlich die Stärke: Hierarchien legen fest, wer welche Entscheidungen treffen darf und sorgt damit für schnelle Entscheidungen. Ein Abteilungsleiter kann beispielsweise Budgets bis zu einer bestimmten Höhe selbst freigeben, ohne die Geschäftsführung zu fragen.
  • Eindeutige Rollen und Verantwortlichkeiten: Hierarchien machen klar, wer welche Position hat und was von jedem erwartet wird. Die Teamleiterin weiß genau, dass sie für die Leistung ihres Teams verantwortlich ist und welche Befugnisse sie hat. Das weiß auch das Team.

Führung: Wenn Regeln nicht ausreichen

In der volatilen Gegenwart wird allerdings deutlich, dass bei sinkender Planbarkeit Hierarchien nicht ausreichen, um in Krisen oder bei unerwarteten Veränderungen handlungsfähig zu bleiben. In diesen Fällen braucht es Führung. In Momenten der Unsicherheit – sei es eine Krise, ein interner Konflikt oder eine neue Marktentwicklung – führt das reine Befolgen von Regeln nicht zum Ziel. Führung bedeutet, genau dann Orientierung zu schaffen, wenn bestehende hierarchische Strukturen versagen.

Führung zeichnet sich durch folgende Aspekte aus:

  • Umgang mit Komplexität: Führung akzeptiert, dass nicht alles planbar ist. Sie ermutigt Teams, flexibel auf Veränderungen zu reagieren, statt starr an Plänen festzuhalten. So könnte ein Projektleiter Ziele und Methoden (laufend) anpassen, wenn sich Kundenbedürfnisse ändern.
  • Förderung von Innovation: Führung schafft Freiräume für neue Ideen. Sie ermutigt zu kreativem Denken und unkonventionellen Lösungen und organisiert Freiraum dafür. In Führung gehen kann bedeuten, Austausch zu Innovationen zu initiieren und zu organisieren, dass sich die Zeit hierfür genommen wird.
  • Entscheidungsfindung unter Unsicherheit: Führung trifft Entscheidungen, auch wenn nicht alle Informationen verfügbar sind. Sie wägt Risiken ab und ist bereit, Entscheidungen anzupassen. Eine Geschäftsführerin entscheidet sich zum Beispiel für den Eintritt in einen neuen Markt, obwohl der Erfolg unsicher ist.
  • Förderung von Selbstorganisation: Führung gibt Teams die Freiheit, ihre Arbeit selbst zu organisieren. Sie stellt Ressourcen bereit und entfernt Hindernisse. Eine Teamleiterin lässt ihr Team selbst entscheiden, wie es ein Projekt umsetzt, und steht beratend zur Seite.
  • Verständnis für Zusammenhänge: Führung erkennt übergreifende Zusammenhänge innerhalb der Organisation und darüber hinaus und berücksichtigt bei Entscheidungen die Auswirkungen auf das Gesamtsystem. Bei einer Umstrukturierung bedenkt die Führungskraft die Auswirkungen auf alle Abteilungen, nicht nur auf den eigenen Bereich.
  • Selbstreflexion und Lernen: Führung hinterfragt regelmäßig das eigene Handeln und die Annahmen dahinter mit großer Offenheit für Rückmeldungen und der Bereitschaft, das eigene Handeln anzupassen.
  • Effektive Kommunikation: Führung kommuniziert klar, hört dafür aktiv zu und fördert den offenen Austausch im Team. Sie stellt sicher, dass wichtige Informationen alle erreichen. Das könnten wöchentliche Abstimmungsmeetings sein, in denen auch darüber gesprochen wird, wie ein guter Informationsfluss (auch unabhängig von Hierarchien) sichergestellt wird.
  • Anpassung an das Umfeld: Führung beobachtet Veränderungen im Markt und in der Gesellschaft und passt die Strategie der Organisation entsprechend an. Gerade in der komplexen Gegenwart spielt diese Anpassungsfähigkeit eine wichtige Rolle.

Führung ohne formale Macht

Auch wenn einige der eben aufgeführten Beispiele klar auf formale Führungsrollen referenzieren, ist Führung nicht auf formale Führungskräfte beschränkt. In dynamischen oder konfliktbeladenen Situationen kann jeder in Führung gehen. Führung erfordert also nicht immer zwingend formale Macht.

Ein plastisches Beispiel hierfür ist ein Projektteam, das an einer wichtigen Deadline arbeitet. Plötzlich fällt ein kritisches System aus. In diesem Moment übernimmt vielleicht nicht der Projektleiter die Führung, sondern die IT-Spezialistin im Team. Sie koordiniert die Fehlerbehebung, kommuniziert mit allen Beteiligten und trifft schnelle Entscheidungen. Sie führt in diesem Moment, ohne eine formale Führungsposition zu haben.

Das bedeutet auch, dass Führung in flacheren Hierarchien nicht nur möglich wird, sondern erforderlich ist. Weniger Hierarchie bedeutet weniger Sicherheit durch formale Struktur. Mehr Menschen müssen sich eigeninitiativ aktiv einbringen. Wenn keine formellen Strukturen vorhanden sind, in denen Entscheidungen getroffen werden, wird Führung von allen Mitarbeitenden erwartet. Diese Führung basiert auf Expertise, Kreativität und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Fünf zentrale Aspekte für Führung ohne formale Autorität

  • Fachliche Kompetenz: Führung ohne formale Macht basiert oft auf hohem Fachwissen. Experten können durch ihr tiefes Verständnis eines Themas andere inhaltlich anleiten und Lösungen vorschlagen und so auch Entscheidungen treffen.
  • Situative Initiative: Menschen, die in kritischen Situationen die Initiative ergreifen und Verantwortung übernehmen, üben unabhängig von ihrer formalen Position Führung aus.
  • Überzeugungskraft und Kommunikationsfähigkeit: Führung ohne formale Macht erfordert die Fähigkeit, andere auf andere Arten und Weisen zu beeinflussen. So kann zum Beispiel durch Argumente und klare Kommunikation überzeugt oder motiviert werden. Denn Menschen folgen Ideen, die von überzeugenden Persönlichkeiten vertreten werden, besonders wenn diese Ideen mit den eigenen Werten und Bedürfnissen übereinstimmen.
  • Netzwerk und Beziehungen: Informelle Führungskräfte nutzen oft ihr persönliches Netzwerk und gute Beziehungen, um Einfluss auszuüben und Veränderungen zu bewirken.
  • Vorbildfunktion und Integrität: Durch vorbildliches Verhalten und hohe persönliche Integrität gewinnen informelle Führungskräfte das Vertrauen und den Respekt ihrer Kolleginnen und Kollegen. Das macht führen leichter.

Herausforderungen beim Übergang

Der Übergang zu flacheren Strukturen und verteilter Führung ist allerdings voller Stolpersteine und Hindernisse. Hier sind einige davon:

  • Angst vor Machtverlust: Langjährige Führungskräfte könnten sich durch die Abgabe von Verantwortung und Entscheidungsmacht bedroht fühlen. Abteilungsleiter, die bisher alle Entscheidungen selbst getroffen haben, müssen nun Verantwortung an Teams abgeben.
  • Unsicherheit bei Mitarbeitenden: Plötzliche Freiheit und die Anforderung, im Team Entscheidungen zu treffen, kann überfordern. Mitarbeitende, die sich bisher auf Vorgesetzte verlassen konnten, müssen neue Wege erarbeiten, wie sie selbst oder gemeinsam im Team entscheiden.
  • Gefühl der Überforderung: Nicht jeder will oder kann im Kontext der eigenen Arbeit Verantwortung übernehmen. Menschen, die sich in einer fachlichen Rolle wohlfühlen, können sich durch zusätzliche Verantwortung überfordert fühlen.
  • Schwierigkeiten bei der Koordination: Ohne klare Hierarchie kann Chaos entstehen. Der Wegfall formeller Entscheidungswege führt zu längeren Abstimmungsprozessen oder gar dazu, dass niemand Entscheidungen trifft. Das wird unweigerlich zu Verzögerungen führen.
  • Notwendigkeit eines Kulturwandels: Alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen. In einem Unternehmen, das von einem Top-Down-Management geprägt war, muss Vertrauen beispielsweise in neue Feedback-Schleifen erst langsam aufgebaut werden.
  • Probleme bei der Skalierung: Was in kleinen Teams funktioniert, wird mit wachsender Unternehmensgröße oft schwieriger. Unternehmen, die schnell wachsen, müssen neue Strukturen einziehen, um die Organisation zu bewältigen.

Um diese Herausforderungen zu meistern, ist ein schrittweiser Übergang sinnvoll. Schulungen, Coaching und Experimentierräume, in denen das neue Arbeiten getestet wird, helfen dabei, ohne Angst vor Konsequenzen zu experimentieren.

Verteilte Führung als Zukunftsmodell

Ein vielversprechender Ansatz für die Zukunft ist das Konzept verteilter Führung. Hierbei wird Führung generell als kollektive Aktivität verstanden und nicht an individuelle Positionen gebunden. Führung könnte dabei beispielsweise in die folgenden verschiedene Rollen aufgeteilt werden:

  • Das Team verantwortet die Wertschöpfung und kann Entscheidungen, die die Kernaufgaben betreffen, eigenmächtig treffen.
  • Ein People Lead fokussiert sich auf Personal, Organisationsentwicklung und die Verbesserung der Zusammenarbeit sowie die persönliche Entwicklung der Mitarbeitenden.
  • Ein Value Verantwortlicher – etwa ein Product Owner – übernimmt die strategische Ausrichtung, die Geschäftsentwicklung und die wirtschaftliche Steuerung.

Diese Aufteilung ermöglicht es, die spezifischen Stärken der Mitarbeitenden in den Rollen gezielt zu nutzen und verteilt Verantwortung auf mehrere Schultern. Es erfordert gleichzeitig hohe Kommunikationsfähigkeit, Vertrauen und Kooperationsfähigkeit, weil in der Zusammenarbeit mehr Abstimmungsbedarf entsteht und die Bereitschaft da sein muss, den Entscheidungen einzelner Rollen in ihren Verantwortlichkeiten zu folgen.

Weniger Hierarchie erfordert mehr Führung

Flachere Hierarchien bedeuten nicht weniger Führung – im Gegenteil. Sie erfordern von allen Mitarbeitenden, Verantwortung zu übernehmen und in unsicheren Situationen Führungsrollen anzunehmen.

In traditionellen Unternehmen mit klarer Hierarchie würde bei einem Markteinbruch der CEO die Strategie anpassen und Anweisungen über Kommunikationskanäle weitergeben. In Unternehmen mit flachen Hierarchien sind hingegen alle Mitarbeitenden gefordert, die Situation zu analysieren, Lösungen zu entwickeln und Initiativen zu starten – ohne auf Anweisungen von oben zu warten.

Diese Art der Führung erfordert Klarheit, Vertrauens und Offenheit. Die Mitarbeitenden müssen befähigt und bereit sein, Führung zu übernehmen. Gleichzeitig müssen klare Mechanismen vorhanden sein, um die dezentrale Führung zu koordinieren und Chaos zu vermeiden.

Mehr Führung in flachen Hierarchien – was heißt das konkret?

Der Abbau einzelner Hierarchieebenen und damit die erfolgreiche Einführung flacher Hierarchien geht weit über die reine formelle Abschaffung von Führungsebenen hinaus. Sie verlangt nach gezielten Schulungen, Mentoring, Begleitung und Coachings, um (alle!) Mitarbeitende auf die Übernahme von Führungsaufgaben vorzubereiten und die Bereitschaft zu fördern, Entscheidungen auszuhandeln und zu treffen. Die Zusammenarbeit braucht ein hohes Maß an Vertrauen, Kooperation und Kollaboration. Die neuen Strukturen und Prozesse des Unternehmens müssen dieses Arbeiten fördern und fordern.

Ein effektiver Weg dahin sind Experimentierräume, in denen Teams eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und Führung übernehmen. Pilotprojekte, bei denen flachere Strukturen ausprobiert werden, bieten wertvolle Erfahrungen für die langfristige Veränderung.

Wichtig ist auch, den Kontext des Unternehmens zu kennen. Nicht jede Branche oder Unternehmensgröße eignet sich für die Reduktion von Hierarchien. In sicherheitskritischen Bereichen oder stark regulierten Branchen sind klare Entscheidungswege oft unverzichtbar. Hierarchien spielen dort ihre Stärken aus, insbesondere in großen Unternehmen, in denen sie für die Strukturierung notwendig sind.

Führung wird wichtiger, nicht weniger

In Kontexten, in denen Dezentralisierung und Selbstorganisation sinnvoll sind, wird Führung wichtiger und vielfältiger und abhängig von der Unternehmensgröße wird es sich immer um einen Hybrid aus Dezentralisierung und zentraler Steuerung handeln. Darin braucht es die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und in komplexen Situationen zu reagieren, indem an der richtigen Stelle Entscheidungen getroffen werden. Auch wenn die Hierarchien flacher werden, die Bedeutung von Führung wird größer.

(Das Bild ist mit Adobe Firefly generiert!)

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